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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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wusste. Er wollte es sich bloß nicht eingestehen, weil es so quälend war, sich ständig nach etwas zu sehnen, was er nie bekäme. Denn sein Herz war dort, wo es immer gewesen war – im Besitz eines wilden, furchtlosen Mädchens, eines Mädchens, das er nie mehr wiedersehen würde. Wie sehr wünschte er sich doch, dass es anders wäre.
    Shackleton seufzte. »Es ist eine Frau, nicht wahr?«
    Seamie nickte. »Ja, das stimmt.«
    »Heiraten Sie sie, gründen Sie eine Familie, und kommen Sie dann mit mir mit.«
    Seamie lachte. »Ich wünschte, es wäre so einfach, Sir.«
    Shackleton wurde etwas nachgiebiger. »Hören Sie, mein Junge, es ist erst März. Ich segle nicht vor August, frühestens. Nehmen Sie sich Zeit. Überlegen Sie es sich. Ich möchte Sie dabeihaben. Das wissen Sie. Aber Sie müssen tun, was Sie für richtig halten.«
    »Das weiß ich, Sir. Danke. Ich überlege es mir«, antwortete er. Und zu sich selbst fügte er hinzu: »Wenn ich nur wüsste, was das Richtige ist.«

   15   
    M ax zog tief an seiner Zigarette und atmete dann langsam aus. Er war froh, dass der Rauch half, den Gestank zu überdecken.
    Er saß auf dem einzigen Stuhl seines Zimmers im Duffin’s. Gegenüber von ihm saß Gladys Bigelow auf dem Bett. Sie schluchzte und zitterte. Sie hatte sich bereits zweimal übergeben und sah aus, als würde sie es ein drittes Mal tun. Decke, Laken und Kissen hatte er bereits unten in die Abfalltonne geworfen, aber der Gestank war dennoch unerträglich.
    Auf dem Tisch in der Mitte des Raums lag der Grund für Gladys’ Tränen – eine Reihe hässlicher, obszöner Fotos. Sie zeigten eine Frau, die nackt und mit gespreizten Beinen auf einem Bett lag. Das Gesicht der Frau war deutlich erkennbar. Max kannte die Fotos sehr gut. Er hatte sie vor ein paar Tagen selbst aufgenommen.
    »Bitte«, sagte Gladys schluchzend. »Ich kann nicht. Ich kann das nicht tun. Bitte.«
    Max zog erneut an seiner Zigarette. »Du hast keine Wahl. Wenn du dich weigerst, schicke ich die Fotos an George Burgess. Dann verlierst du deine Stelle, und wegen der Schande findest du sicher keine neue. Dieser Job ist dein Leben, Gladys. Das hast du mir selbst gesagt. Bei mehreren Gelegenheiten. Was hast du denn sonst? Eine Familie? Einen Ehemann? Nein. Und wahrscheinlich kriegst du auch nie einen. Jedenfalls nicht, wenn ich diese Fotos veröffentliche.«
    »Ich bringe mich um«, sagte Gladys mit erstickter Stimme. »Ich geh zur Tower Bridge und stürz mich runter.«
    »Wer würde sich dann um deine kranke Mutter kümmern, wenn du das tust?«, fragte Max. »Wer würde ihre Arztrechnungen bezahlen? Ihr Essen? Die Miete? Wer würde sie am Sonntag im Rollstuhl durch den Park fahren? Du weißt, wie viel ihr das bedeutet. Sie freut sich die ganze Woche darauf. Glaubst du, die Pfleger im Armenhaus, wo sie landen wird, machen das? Sie könnte von Glück sagen, wenn sie ihr überhaupt was zu essen geben.«
    Gladys bedeckte das Gesicht mit den Händen und stieß ein tierhaftes Stöhnen aus. Sie würgte erneut, aber es kam nichts mehr heraus.
    Max legte seine Zigarette auf den Rand des Aschenbechers und verschränkte die Arme. Er wünschte, er wäre nicht in diesem verdreckten Zimmer und müsste den Gestank von Erbrochenem und Verzweiflung nicht einatmen. Er schloss kurz die Augen und ließ ein Bild des Ortes vor sich erstehen, an dem er tatsächlich sein wollte – ein Ort in freier Wildnis, von Menschen unberührt.
    Dieser Ort war weiß, rein und kalt. Es war der Everest, das Dach der Welt. Und nur die Hoffnung, eines Tages dorthin zurückzukehren und sie – Willa Alden – vielleicht wiederzufinden, hielt ihn in diesem Moment davon ab, das elende Zimmer zu verlassen. Und die elende Frau. Das ganze elende, hässliche Whitechapel. Jedes Mal, wenn er hierherkam, setzte er sein Leben aufs Spiel. Das war ihm klar. Er hatte gehört, dass ihm die Cambridge-Jungs auf der Spur waren, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie ihn erwischten. Nun, dagegen ließ sich wenig machen, und abzuhauen, bevor der Job getan war, würde das Leben anderer Menschen gefährden. Das Leben von Millionen von Menschen. Also blieb er.
    Er wartete noch eine Weile und gab Gladys ein wenig Zeit, sich zu erholen. »Machst du es?«, fragte er schließlich. »Oder soll ich die Bilder abschicken?«
    »Ich mache es«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.
    »Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen würdest«, sagte Max. Er drückte seine Zigarette aus und beugte sich vor.

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