Die Winterprinzessin
noch einmal: Dies ist nicht die Amme des Prinzen!«
Der Rittmeister schien immer noch Zweifel zu haben, obgleich Dalberg es doch besser wissen musste. »Aber es gibt keine anderen Leichen im Haus.«
Dalberg erhob sich. »Außer der Amme war auch ein Leibgardist des Kaisers hierher beordert worden. Von ihm haben Sie keine Spur gefunden?«
»Nein«, bestätigte Stiller.
Jakob ergriff zögernd das Wort. »Vielleicht ist er Stanhope gefolgt, und seine Leiche liegt irgendwo im Wald.« In krassem Gegensatz zu seinem äußeren Schrecken stand das Funkeln in seinen Augen, Anzeichen seiner Begeisterung für ein ungelöstes Rätsel.
Dalberg fuhr herum und schoss einen vernichtenden Blick in seine Richtung. »Begreifen Sie denn nicht?«, brüllte er erregt. »Ich kenne diese verdammte Frau nicht! Niemand konnte von dem Versteck wissen. Also, was zum Teufel hat sie hier zu suchen?«
Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hatte angenommen, Dalberg sei jemand, der nie die Kontrolle über sich verlieren würde. Doch nun suchte er ein Opfer für seinen hilflosen Zorn, und Jakob eignete sich so gut wie jeder andere.
Mein Bruder blieb bewundernswert gefasst, zog es aber vor, zu schweigen.
Stiller half ihm aus der Bedrängnis, indem er bemerkte: »Ich denke, wir sollten die Wälder rundherum absuchen.«
»Und vielleicht mehrere Tage verlieren?«, warf Dalberg ihm entgegen.
Der Rittmeister wollte etwas erwidern, doch im selben Augenblick trat einer der Soldaten durch die Tür. »Melde gehorsamst einen weiteren Toten, draußen zwischen den Felsen.«
»Trägt er Uniform?«, fragte Stiller.
»Jawohl, Rittmeister.«
Dalberg drängte sich an den beiden vorbei. »Ich will ihn sehen.« Sprach’s und stürmte hinaus.
Jakob und ich wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
Stiller wandte sich an den Soldaten. »Gehen Sie hinauf ins Schlafzimmer im ersten Stock und holen Sie ein paar Kleider aus dem Schrank. Dann kommen Sie hierher zurück und ziehen Sie sie dieser Frau an.« Dabei deutete er auf die Leiche.
Der Soldat blickte starr geradeaus, zuckte aber merklich zusammen. »Ich bitte um Erklärung, Rittmeister Stiller.«
Stiller beugte sich vor, bis nur noch wenige Fingerbreit seinen Mund vom Ohr des Soldaten trennten. »Stellen Sie keine dummen Forderungen, Mann, sondern führen Sie meinen Befehl aus!«, brüllte er. »Haben Sie das verstanden?«
»Verstanden, Rittmeister Stiller!«, bellte der Soldat.
»Dann finden Sie heraus, ob die Kleider aus dem Schrank dieser Frau passen. Sie kennen sich doch aus mit Damenkleidung, hoffe ich?«
Der Soldat, ein Mann in meinem Alter, wurde puterrot. »Gewiss, Rittmeister.«
»Sehr schön!« Stiller drehte sich zu uns um. »Kommen Sie mit, oder wollen Sie etwa zusehen?«
Eilfertig schüttelten wir die Köpfe und folgten ihm betroffen ins Freie. Dalberg stand in einiger Entfernung in einem Pulk von Soldaten und blickte auf etwas hinab, das zwischen grobem Felsgeröll lag. Eine Hand, verkrampft wie ein toter Käfer, ragte dahinter hervor. Als wir näher kamen, sahen wir, dass es ein Mann in napoleonischer Uniform war. Seine Brust war vom Blut dunkelbraun gefärbt. Stanhope hatte ihm einen Stich direkt ins Herz versetzt. Die Leiche war mit Eiskristallen überzogen wie mit einem Spinnennetz.
»Ist das der Franzose, von dem Sie sprachen?«, fragte Stiller.
Dalberg nickte. »Er muss es sein. Ich selbst habe ihn nie gesehen, er wurde aus Paris gesandt. Der Kaiser wollte sichergehen, dass einer der besten Kämpfer Frankreichs das Kind beschützt.«
Stiller blickte auf den Toten hinab. »Ein klarer Sieg für England, wie mir scheint.«
Der Minister drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zum Höhlenhaus. Stiller eilte ihm geschwind hinterher; im Gehen erklärte er Dalberg, was er dem Soldaten aufgetragen hatte, und die beiden kamen überein, das Ergebnis abzuwarten, ehe sie weitere Entscheidungen trafen.
Schon bald kam der junge Soldat ins Freie gestürmt, sichtlich durcheinander ob seines schamlosen Auftrags.
»Melde gehorsamst, Kleider sitzen wie angegossen«, rief er stramm.
Stiller grinste ihn an – wenig passend in Anbetracht des tragischen Geschehens –, dann ließ er ihn wegtreten.
Dalberg schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich verstehe es nicht«, murmelte er in Gedanken, »ich habe diese Frau nie zuvor gesehen. Wie ist es möglich, dass sie sich hier häuslich einrichten konnte, obwohl ich eine völlig andere Person hierher geschickt habe? Und wohin ist die echte Amme
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