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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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verschwunden?«
    Wenig später kehrte ein Kundschafter aus dem Wald zurück. »Die Spur eines Pferdes führt von hier nach Nordosten«, meldete er. »Der Schnee hat sie an einigen Stellen verweht, aber im Großen und Ganzen ist sie noch gut zu erkennen.«
    Dalberg und Stiller nickten sich wortlos zu. Wir wussten alle, was zu tun war.
    »Aufsitzen!«, gebot der Rittmeister seinen Männern. »Wir werden der Spur folgen, solange es nur geht.«
    »Und dann?«, wagte ich einzuwenden. »Irgendwann wird sie zwischen anderen verschwinden, spätestens wenn wir in eine weniger einsame Gegend kommen.«
    Stiller sah mich einen Augenblick lang unheilvoll an, dann lächelte er grimmig. »Wenn Stanhope das Kind hätte töten wollen, dann hätte er es hier getan. Augenscheinlich aber will er es lebend irgendwohin bringen. Sein bisheriger Triumph ist deshalb zugleich sein größtes Hindernis – denn wer wird sich nicht an einen Durchreisenden erinnern, der an der einen Seite einen Säbel trägt und auf der anderen ein Kind?«
    Während wir alle auf unsere Rösser stiegen und bereits neue Hoffnung fassten, blieb Dalberg mürrisch und brütete über düsteren Gedanken. »Wir sollten Stanhope nicht unterschätzen. Irgendetwas ist hier geschehen, womit bisher keiner gerechnet hat.«
    »Sie meinen diese Frau?«, fragte Jakob.
    Dalberg nickte. »Sie kann nichts mit Stanhope zu tun haben, er hätte sie sonst kaum erdrosselt. Wer aber wusste sonst noch von diesem Versteck?«
    »Der Kaiser?«, flüsterte Jakob zaghaft, als wage er kaum, eine solche Anschuldigung auszusprechen.
    Und Dalberg, der die Worte sehr wohl vernommen hatte, nickte erneut. »Der Kaiser …«, murmelte er zu sich selbst. »Ich frage mich allmählich – « Der Rest des Satzes ging im Donnern der Hufe unter, als er sein Pferd zum Ausgang des Talkessels trieb. Grübelnd schaute ich ihm nach.
    Derweil bemühte sich Stiller, Zuversicht zu verbreiten. »Mit dem Glück auf unserer Seite führt Stanhope uns direkt zu seinen Auftraggebern.«
    Jakobs Stimme troff vor Hohn, als er sich im Sattel aufstellte und laut in die Runde rief: »Nun denn, meine Herren – ein Hoch auf Kamerad Glück!«
    Stanhopes Fährte war uns länger dienlich, als wir alle zu hoffen gewagt hatten. Es fiel kein neuer Schnee mehr, und die eisige Kälte hielt die Abdrücke von Stanhopes Pferd klar und deutlich auf den verschneiten Wegen fest. Der Lord ritt weiterhin in nordöstlicher Richtung, sodass wir dort, wo seine Spur sich mit der von anderen Reisenden kreuzte, immer wieder jenen Huf abdrücken folgen konnten, die gen Norden oder Osten führten. Und es erwies sich, dass wir noch auf der richtigen Fährte waren, denn immer wieder stießen wir auf fortgeworfene Windeln, die der Lord dem kleinen Prinzen notgedrungen wechseln musste. Sein Vorrat aus dem Felsenhaus schien so groß, dass er die verschmutzten Tücher nicht auswaschen musste und stets nach einem frischen greifen konnte. Hätte ich nicht gewusst, wie tückisch der Lord und wie übel sein Ansinnen war, so hätte mir das Bild durchaus Vergnügen bereiten können: Stanhope, einer der gefährlichsten Männer Europas, mühte sich mit den Windeln eines Kindes ab. Derselbe Mann, der wenige Tage zuvor dem armen Kutscher bei lebendigem Leibe das Gesicht vom Schädel geschält hatte.
    Er mied die größeren Straßen und ritt ausschließlich auf abgelegenen Wald- und Ackerwegen. Selbst als wir nach fast zwei Tagen seine Spur im Schnee verloren, war es nicht schwierig, ihm auch weiterhin zu folgen. Denn der Lord war gezwungen, die Nächte in Gasthäusern zu verbringen; eine Übernachtung im Freien war einem Kindlein von wenigen Monaten nicht zuzumuten. Auch trafen wir auf einige Bauern, denen er frische Milch und Eingemachtes abgekauft hatte. Sie alle, Landvolk wie Wirte, erinnerten sich nur zu gut an den hoch gewachsenen Edelmann mit fremdländischem Akzent und einem kleinen Kind im Arm.
    Und obgleich wir immer wieder Halt machen mussten, um Erkundigungen über den Flüchtigen einzuholen, schien auch Stanhope nicht schneller voranzukommen; die Bedürfnisse des Kindes hielten auch ihn übergebührlich auf. Zudem waren unsere anfänglichen Vermutungen richtig gewesen: Stanhope befand sich genau einen Tagesritt vor uns, das bestätigte uns jedermann, der ihm begegnet war.
    So hob sich die Laune der Soldaten allmählich, trotz aller Strapazen. Allein ich selbst, und wohl auch Jakob, verfiel von Tag zu Tag in tieferen Trübsinn.
    Dalberg bemerkte es, und

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