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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geblendet?
    Panisch bewegte ich meine Augen. Sie rollten in ihren Höhlen hin und her, wenigstens fühlte es sich so an. Doch Nerven können dem Menschen Streiche spielen. Wie dem Mann ohne Arme, der jeden Finger spürt. Galt das auch für Augen? Würde ich sie noch im Schädel fühlen, wenn sie längst schon fort waren? Ausgestochen? Ausgebrannt?
    Ich schrie, so lange und so laut ich nur konnte. Es klang dumpf, ohne jeden Hall, niemand würde mich hören. Trotzdem brüllte ich mir die Seele aus dem Leib.
    Erschöpfung ließ mich schließlich verstummen. Aber ich blieb bei Verstand, weil ich mir sagte, ich sei vielleicht doch noch bewusstlos. Es war die einzige Erklärung. Kein Mensch konnte so hilflos sein, es gab immer eine Lösung, immer eine Rettung. Nur nicht im Grab.
    Im Grab! Das war der furchtbarste Gedanke von allen. Lebendig begraben. Aber warum dann die Fesseln? Unter der Erde bedarf es keiner Ketten, niemand kehrt von dort zurück. Eine kluge Erkenntnis.
    Die Dunkelheit leckte mir übers Gesicht. Ja, da war plötzlich Feuchtigkeit auf meinen Lippen. Eine sanfte Berührung von Nässe. Da, noch einmal! Tropfen. Etwas tropfte auf mich herab.
    Es war nicht die Vernunft, die mich mit der Zunge danach tasten ließ. Vielleicht war es der Zwang, irgendetwas zu tun, um zu wissen, dass ich noch lebte. Leben ist Bewegung, ist Tasten, ist Schmecken. Die Zunge hatten sie mir nicht gefesselt. Ein irrer Triumph durchfuhr mich. Ich bin nicht besiegt!, schrie es in mir. Nicht besiegt! Ich kann die Zunge bewegen. Kann schmecken.
    Der Geschmack war … würzig. Ein wenig salzig. Und warm.
    Ein übler Geruch lag in der Luft, ein regelrechter Gestank. Er machte das Atmen zur Qual, ich bemerkte es erst jetzt. Dieser Gestank … das war Verwesung, ohne Zweifel. Jeder Mensch weiß, wie Verwesung riecht, doch die wenigsten vermögen den Geruch zu benennen. Er umgibt uns, er durchdringt uns, in Häusern und im Freien, überall und immerzu. Erst wenn wir einmal gesehen haben, wie ein Stück Fleisch verfault, begreifen wir, dass dies der Gestank des Todes ist. Deshalb erschreckt er uns so. Weil wir ihn im Inneren wiedererkennen. Weil wir ihn immer bei uns tragen. Im Leben wie im Tod.
    Ja, es roch nach Verwesung. Und etwas tropfte auf mich herab. Wieder schrie ich auf.
    Eine zarte Berührung. Etwas fiel mir ins Gesicht. Federleicht blieb es unter meinem rechten Auge haften. Ich verstummte.
    Noch mehr Tropfen. Sicher nicht allein auf meinen Lippen. Am Körper verhinderte die Kleidung, dass ich sie spürte. Wahrscheinlich sickerte die Feuchtigkeit schon durch den Stoff.
    Der Geschmack war noch immer in meinem Mund. Kein Blut, ganz bestimmt nicht, trotz der Verwesung. Körper nässen, wenn sie zerfallen. Aber es ist nicht Blut, das sie verlieren. Es ist Wasser und – Wie schmeckt Lymphe?
    Wie, bei Gott, schmeckt Lymphe?
    Ich riss den Kopf zur Seite und spie hinaus ins Dunkel. Erbrochenes schoss mir den Hals empor. Ich spuckte und schrie – vergeblich. Bittere Galle füllte meinen Mund. Ich bekam keine Luft mehr. Ich erstickte an meinen eigenen Säften. Hustend, den Kopf verdreht, bis die Wirbel knirschten, erbrach ich alles zur Seite. Das Erbrochene rann mir die Wange hinunter.
    Lymphe. Allein das Wort. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es in mir steckte. Ganz tief im Innern vergraben. Vielleicht sollten wir uns mehr vor dem fürchten, was sich im eigenen Kopf verbirgt. Nicht vor Gedanken und Begierden, nur vor Worten.
    Plötzlich war es Gewissheit. Etwas zerfiel, ganz genau über mir. Etwas, das an der Decke hing wie mein Spiegelbild, vielleicht ebenso angekettet, ebenso ausgeliefert. Wer mochte wissen, wie lange schon. Es hätte ein Tier sein können. Aber Tiere hängen nicht an der Decke zum Sterben. Gewiss, Menschen auch nicht. Aber es gibt andere Menschen, die einen an Böden ketten. Warum nicht auch an die Decke? Sie lassen einen hängen, bis man tot ist – und länger. Bis sie einen anderen genau darunter am Boden fesseln, damit die Reste des ersten auf den zweiten tropfen. Ein Leichenregen aus altem Fleisch. Aus Haut und Wasser – und Lymphe.
    Immer dieses Wort. Ich wusste jetzt, wie es schmeckte. Ja, Worte haben einen Geschmack. Genauso wie einen Geruch. Sie sind nicht nur fürs Gehör gemacht. Worte schmecken, Worte riechen, und wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, wer weiß, vielleicht hätte ich sie sehen können. Vielleicht war ein Wort in mein Gesicht gefallen … Ja, ich konnte es doch fühlen. Das Ding unter

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