Die Winterprinzessin
meinem Auge, so leicht, nur ein Hauch. Ein Wort, da lag es und rutschte nun allmählich die Wange hinunter, seitlich bis zum Ohr. Am Ende findet eben selbst das kleinste Wort Gehör.
Lachte ich? Ich konnte nicht anders. Ich lachte und lachte in einem fort. Ein Wort findet Gehör … wunderbar! Großartig! Wahrlich zum Schreien! Die Komödie des Sterbens war jene des Lebens. Ich lachte mich glücklich um den Verstand.
Ich hörte etwas. Ein Tropfen. Dann Gelächter.
Und plötzlich – Licht!
Gleißend ergoss es sich von hinten über mein Gesicht. Ich konnte nicht sehen, woher es kam. Geblendet kniff ich die Augen zusammen, ganz gleich, wie sehr ich doch sehen wollte. Aber ich war nicht blind. Das Licht war keine Einbildung.
Ganz langsam öffnete ich die Augen. Auf die Wand zu meinen Füßen fiel strahlende Helligkeit. Sie hatte die Form eines Rechtecks. Hinter meinem Kopf hatte sich eine Tür geöffnet.
Ein Umriss schälte sich aus der Helligkeit. Ich verrenkte den Kopf, um nach hinten zu blicken. Es ging nicht. Ich musste mich vorerst mit dem Schatten des Eintretenden begnügen.
Es war eine Frau mit schlanker Taille. Sie hatte zehn Arme, daran zehn Hände. Sie hielten zehn Waffen, Säbel und Messer.
Kali, die indische Göttin des Todes. Die schwarze Weltherrscherin. Aus ihren Augen rinnt Menschenblut. Schädel baumeln an ihrem Körper. Schlangen winden sich um ihren Hals. Kali, die Zerstörerin.
Der Schatten zerfaserte. Glieder verschmolzen, Leiber verwischten. Mehrere Menschen waren nun um mich. Jemand beugte sich über mich. Langes Haar streifte sanft mein Gesicht. Ein Duft verdrängte den Verwesungsgestank. Ihr Duft.
Fast gleichzeitig spürte ich Hebel an den Eisenringen, die mich hielten. Es tat weh, doch dann war ich frei. Die Ringe zersprangen, alle fünf zugleich. Überall um mich war jetzt Bewegung. Schritte und Körper. Weit in der Ferne ertönten Schreie. Schreie von Sterbenden. Diesmal war ich sicher, dass nicht ich es war, der brüllte.
Ich konnte nur an eines denken. Nur an sie. Selbst, während man mich hochhob, sah ich ihr Gesicht vor mir. Das Funkeln der beiden Rubinstecker.
Man trug mich aus dem Kerker in grelles Tageslicht. Ich schloss die Augen. Eine Weile lang glühte die Helligkeit noch rot durch meine Lider, dann wurde alles dunkel. Ich verlor erneut die Besinnung.
Es war wieder dieser Geruch, der mich weckte, stärker noch als in der Kutsche. Statt mich einzuschläfern, bewirkte er nun das Gegenteil. Ich lag flach auf weichem Untergrund. Jemand hielt meinen Kopf, hob ihn sachte an. Ein Krug wurde an meine Lippen gesetzt. Heißer Sud, der mir die Zunge verbrannte. Er floss in meinen Mund und die Kehle hinunter, ohne dass ich viel dazu beitrug.
»Wilhelm«, sagte eine besorgte Stimme. »Wilhelm, wach auf!«
Meine Augenlider flatterten. Es dauerte einen Moment, bis ich sie unter Kontrolle hatte und öffnen konnte.
»Jakob!«, entfuhr es mir. Meine Stimme klang entsetzlich.
»Du bist in Sicherheit«, sagte er. Ich sah nun, dass er es war, der meinen Kopf hielt. Mit der anderen Hand streichelte er mir übers Haar. »Die Prinzessin hat dich gerettet.«
»Jade?«
Ein schmaler Finger legte sich sanft auf meine Lippen. Er gehörte keinesfalls Jakob. »Psst«, machte die Prinzessin. Ihr Gesicht schob sich aus dem verschwommenen Farbenchaos vor meine Augen. Nun konnte ich sie deutlicher erkennen.
Sie schien mir noch liebreizender als bei unserer ersten Begegnung.
Die heiße Flüssigkeit, die sie mir eingeflößt hatte, schien sich in meinem Magen auszudehnen. Ein starkes Sättigungsgefühl überkam mich, meine Übelkeit schwand, und ich spürte sogar, wie ein Teil meiner Kraft wiederkehrte.
Jade musste meine Verwunderung bemerkt haben. »Eine Kräutermischung«, sagte sie. »Sie werden bald wieder einschlafen und herrliche Träume haben. Danach wird es Ihnen besser gehen.«
Die Erinnerung an die Tropfen von der Decke überkam mich. Instinktiv fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen, aber der Geschmack war fort. Sie hatten mich entkleidet und gewaschen.
»Wo sind wir?«, brachte ich mühsam hervor.
»Nicht weit von dort, wo du die letzten zwanzig Stunden verbracht hast«, erwiderte Jakob. »In einer Hütte im Wald, ganz in der Nähe der Mine, wo sie dich und das Mädchen gefangen hielten.«
Zwanzig Stunden? So lange? Von was für einer Mine sprach er?
Das Mädchen! »Wie geht es ihr?«
Jakobs Gesicht, ohnehin kaum mehr als ein verschwommener Fleck, entfernte sich ein Stück.
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