Die Winterprinzessin
»Sie lebt. Wir haben sie zu Hadrian zurückgebracht. Er kümmert sich um sie. Er sagt, es sei möglich, dass sie das Kind verlieren wird, aber sie selbst wird wieder gesund.«
»Zurück zu Hadrian? Aber er – «
»Zwei von Jades Männern bewachen sein Haus. Er hat ein wenig seltsam dreingeschaut, als zwei Inder mit Säbeln in seine Wohnung traten, aber er hat es wohl akzeptiert.«
»Er kannte diese Wesen.« Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Die Farben vor meinen Augen verblassten. Der Schlaf, den Jade versprochen hatte, eilte mit Riesenschritten herbei.
»Odiyan«, sagte die Prinzessin, »Tiermenschen. Oder vielmehr Männer, die glauben, sie seien Tiere.«
»Ich verstehe nicht.« Nur noch ein Hauch.
»Bald«, wisperte mir die Prinzessin ins Ohr, dann schlief ich ein. Sie hatte Recht, auch was die Träume betraf.
* * *
Später erfuhr ich, was geschehen war. Ich war kaum überwältigt worden, als Jade, Kala und fünf Reiter das Haus des Doktors erreichten. Die Odiyan waren, obgleich in der Überzahl, vor der Prinzessin und ihren Getreuen geflohen. Nanette und mich allerdings hatten sie mitgenommen.
Während Jakob mir davon erzählte, erinnerte ich mich an die Hufe, die ich während unserer ersten Kutschfahrt mit der Prinzessin zu hören geglaubt hatte. Das mussten die fünf Inder gewesen sein, die uns in einigem Abstand gefolgt waren. Jades Vater, der Maharadscha, hatte seine Tochter die weite Reise ins Abendland nur in Begleitung seiner besten Krieger antreten lassen. Freilich kamen mir nun einige Zweifel an ihrer angeblichen Mission, der Suche nach Uhrmachermeistern.
Den Rest der Ereignisse erfuhr ich von Jade selbst, während wir von der verlassenen Mine in die Stadt zurückfuhren. Sie hatte ihre Kutsche gegen einen Kabinenschlitten eingetauscht. Kurz vor der Abfahrt hatte ich die winzige Felsenkammer entdeckt, in der man mich gefangen gehalten hatte, gleich neben dem Haupteinstieg zum Minenschacht. Ich bat Jakob, mich auf meinem Weg dorthin zu stützen, doch er weigerte sich. Mehr noch, er und Jade sprachen sich ausdrücklich gegen meinen Wunsch aus, einen Blick in den Verschlag zu tun. Ich fügte mich. Ich habe nie erfahren, was wirklich dort an der Decke hing und auf mich herabtropfte.
»Kala und ich hatten die Odiyan entdeckt, schon bevor Sie Bekanntschaft mit ihnen machten«, berichtete die Prinzessin. »Bereits am Morgen wollten wir Sie vor ihnen warnen, doch Sie liefen ja vor uns davon. Weshalb eigentlich?«
Jakob und ich schwiegen beschämt.
Jade zuckte mit den Schultern und drang nicht weiter in uns. »Später jedenfalls folgten wir den Odiyan zum Haus des Doktors, doch ihr Vorsprung war groß, und so kamen wir zu spät. Es gelang mir jedoch, Ihren Bruder zu überzeugen, dass es klüger sei, die Gendarmerie in dieser Angelegenheit nicht hinzuzuziehen. Nach Ihrer Entführung sandte ich zunächst meine Männer aus, das Lager der Odiyan ausfindig zu machen. Die ganze Nacht und den Vormittag über hielten sie Ausschau in den umliegenden Wäldern, bis einer schließlich auf die alte Mine stieß. Es gab keinen Zweifel, dass die Odiyan sich dort versteckten. So kehrten wir gemeinsam zurück und griffen an. Meine Krieger und ich konnten ein halbes Dutzend erschlagen, doch der Rest entkam. Sie sind also noch längst nicht besiegt.«
Ich sah Jakob auffordernd an, damit er die zahlreichen Lücken in dem Bericht füllte, doch er bemerkte es gar nicht. Sein Blick hing gebannt an Jades Lippen. Merkwürdig, dachte ich, war nicht gerade er es gewesen, der der Prinzessin misstraut hatte? Hatte nicht er sich gegen eine Fahrt in ihrer Kutsche ausgesprochen? Und nun vertraute er ihr mit einem Mal mein Leben an, indem er meine Rettung ihren Kriegern überließ, statt die Gendarmerie zu alarmieren. Sehr merkwürdig.
Ich nahm mir fest vor, die Gründe für sein Verhalten herauszufinden. Im Augenblick aber gab es Wichtigeres.
»Wer sind diese … diese Odiyan?«, wollte ich wissen.
»Sie sind Inder wie ich«, erklärte Jade und senkte beschämt den Blick. »Ich muss Sie um Verzeihung für das Tun meiner Brüder bitten.«
Was, zum Teufel, hatten all diese Leute aus dem fernen Indien hier verloren, in der allertiefsten deutschen Provinz?
Doch Jade fuhr fort, bevor ich etwas einwenden konnte. »In meiner Heimat glauben die meisten Menschen an die Existenz von Gestaltwandlern, bösen Wesen, die sich bei Nacht oder durch Einwirkung von Magie in wilde Tiere verwandeln. Es gibt auch bei Ihnen ein Wort
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