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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dafür, so viel ich weiß.«
    »Lykanthropie«, sagte Jakob eilig.
    Jade schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Himmel, dieses Lächeln! Mir kam eine böse Ahnung.
    »Wir in Indien haben einen anderen Begriff dafür«, fuhr die Prinzessin fort. »Die Gestaltwandlung nennen wir Odi, und den Menschen, den sie befällt, Odiyan. Einige der niederen Kasten, vor allem im Süden meines Landes, wo die Menschen sehr, sehr arm sind, verdienen sich mit dem Odi ihren Unterhalt. Sie sind bezahlte Mörder, deren Dienste jedermann kaufen kann. Bevor sie sich aufmachen, ihr Opfer zu töten, vollführen sie ein geheimes Ritual, in dessen Verlauf den Göttern ein menschlicher Fötus dargebracht wird.«
    »Das ist bestialisch«, entfuhr es mir. Beklommen dachte ich an die arme Nanette.
    »Und Bestien wollen diese Männer auch sein«, bestätigte Jade mit ernstem Nicken. »Aus dem Fötus wird im Verlauf des Rituals das Pilla Thailam gewonnen, das Öl von Ungeborenen. Die Mutter des Kindes muss einer anderen Kaste als der des Odiyan angehören. Jener versichert sich, dass am vorgesehenen Tag die Omen für ihn sprechen, dann wartet er bis Mitternacht, geht mehrfach im Kreis um das Haus der Frau und schwenkt dabei eine mit geheimen Zutaten gefüllte Kokosnussschale. Dabei murmelt er Beschwörungsformeln und bittet seine Götter um Beistand. Die Frau, somit unter seinen Willen gezwungen, verlässt wie im Schlaf das Haus. Der Odiyan fällt über sie her und entreißt ihr den Fötus. Das ungeborene Kind wird zerstückelt, über einem Feuer geräuchert und schließlich in einen Topf – «
    »Ich denke, das reicht!«, unterbrach ich sie. Die Erinnerung an Körperflüssigkeiten war meiner Genesung wenig zuträglich.
    Jade lächelte schamvoll. »Für Sie muss das alles sehr geschmacklos klingen.«
    »Geschmacklos? Das trifft es vielleicht nicht ganz.«
    »In unserem Land wächst man mit Geschichten dieser Art auf .Allerdings erzählte mir Ihr Bruder, dass Sie selbst solche Geschichten zu Papier gebracht haben.«
    »Das ist etwas anderes«, entgegnete ich unwirsch. Die beiden mussten sich gut unterhalten haben, während ich in der Mine schmachtete.
    »Nicht wirklich«, widersprach die Prinzessin. »Ihre Märchen haben sicher ähnliche Wurzeln wie unsere Legenden und Rituale. Wie auch immer … Der Odiyan zeichnet mit dem gewonnenen Öl ein magisches Symbol auf seine Stirn. Von nun an ist er für bemessene Zeit ein Tier – oder glaubt es zu sein. Viele von ihnen setzen sich eine Maske auf, die der gewählten Kreatur gleicht. Im Falle unserer Gegner sind das Raubvögel. Sie stoßen blitzschnell zu, schlagen ihre Beute und verschwinden wieder. Ihre Befreiung, Herr Grimm, ging so reibungslos vonstatten, weil sich nur eine kleine Zahl von Odiyan in der Mine aufhielt. Ich bin jedoch sicher, dass sich in den Wäldern noch sehr viele mehr verborgen halten.«
    »Wie sind sie hierher gekommen?«
    »Genau wie Kala, ich und meine Diener. Mit einem Schiff.« Schnell fügte sie hinzu: »Nicht mit demselben, versteht sich.«
    Ich stieß sofort nach. »Dann ist es wohl an der Zeit, dass Sie uns verraten, was Sie hier in Karlsruhe suchen. Ausgerechnet hier.«
    »Die Odiyan sind nicht dumm, Herr Grimm. Sie wissen längst über Sie und Ihren Bruder Bescheid, und Sie kennen den Grund Ihrer Anwesenheit bei Hofe. Dass Sie sich im Haus des Doktors aufhielten, als die Odiyan eine junge Mutter für ihr Ritual verschleppten, mag Zufall gewesen sein. Früher oder später aber wären Sie den Odiyan ohnehin begegnet. Diese Kreaturen – ich sträube mich, sie Menschen zu nennen – handeln im Auftrag einer Macht, die sicher ist, dass Sie, Herr Grimm, etwas besitzen, das für jene von großem Wert ist.«
    »Was, um Himmels willen, soll das sein?«
    Jades Blick wurde stechend. »Wissen, lieber Herr Grimm. Es geht hier allein um Wissen.«
    Jakob und ich schauten uns fassungslos an. »Ich verstehe nicht …«, stammelte ich.
    »Wirklich nicht?«, fragte die Prinzessin, und mit einem Mal schien sie misstrauisch. »Die Odiyan glauben, dass Sie wissen, wo der Sohn des Großherzogs versteckt wird.« Sie beugte sich vor. »Und, um ehrlich zu sein, ich glaube das auch.«
    Eine Weile lang sagte niemand ein Wort. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Erst allmählich gewann ich meine Fassung zurück.
    »Das ist absurd.«
    »Ist es das?«, fragte die Prinzessin lauernd.
    Ich fühlte mich in dem engen Schlitten schrecklich ausgeliefert. Rechts und links wurde das Gespann von Jades Dienern

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