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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wahrheit irgendwem um das Kind ginge.«
    »Nicht?«, setzte ich nach.
    Sie blickte mich aus großen Augen an, fast ein wenig traurig, und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, meine Herren. Es ist besser so, glauben Sie mir. Und vielleicht sollte ich Ihrem Wunsch folgen und Sie vorm Schloss absetzen.« Sie lächelte verlegen. »Sicher wünschen Sie auch, sich umzukleiden.«
    Ich blickte an mir herab und schämte mich angesichts meines zerlumpten Gehrocks und der schmutzigen Hose. Meine Scham verdrängte für einen Moment sogar den Zorn – aber nur ganz kurz. Jade war ein rechtes Biest. Sie verstand es, mit den Gefühlen anderer zu spielen und sie ganz nach Belieben auszunutzen.
    Wenig später erreichten wir das Schloss. Als wir ausstiegen, sah ich, dass die fünf Krieger im Wald zurückgeblieben waren. Sicher ein weiser Entschluss, wenn sie kein unnötiges Aufsehen erregen wollten.
    Jade beugte sich vor und steckte jedem von uns eine Blume hinters Ohr. »Vielleicht ist es das Beste, wenn Sie die Stadt verlassen«, gab sie uns mit auf den Weg, dann schlug sie die Schlittentür zu, und Kala trieb die Pferde an. In einer Wolke von aufgewirbeltem Eis preschte das Gefährt davon.
    Wortlos wandten wir uns um und stiefelten an den Wachen vorüber ins Schloss. Besorgte Blicke folgten uns, wer weiß, ob wegen meines zerrupften Äußeren oder wegen der Blumen in unserem Haar. Jakob musterte mich gelegentlich von der Seite, als zweifelte er, dass ich die Strapazen der Kerkerhaft wahrhaftig überwunden hätte. Allein darin schien er die Gründe der plötzlichen Distanz zwischen uns zu vermuten.
    Wir trennten uns vor den Zimmertüren und zogen uns jeder für sich zurück. Ich wollte mich noch einmal waschen und vor allem die Kleidung wechseln.
    Als ich in meine Westentasche griff, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass sie leer war. Vaters Taschenuhr war verschwunden. Ich musste sie in der Mine verloren haben. Wahrscheinlich hatten die Odiyan sie gestohlen. Ein schrecklicher Verlust, der mich mit Zorn und Trauer erfüllte.
    Niedergeschlagen wollte ich mich aufs Bett fallen lassen, als ich auf dem Kopfkissen einen Zettel entdeckte. Darauf stand eine seltsame Botschaft.
     
    * * *
     
    »Sie wünschen?« Der Mann mochte um die fünfzig sein, hatte eine scharfe Nase und wulstige Lippen. Das Haar ging ihm aus, und seine hohe Stirn glänzte wie poliert. Mir schien, er wusste sehr wohl, wer wir waren, beharrte aber aus höfischer Arroganz auf der Etikette. Er stand im Spalt der hohen Doppeltür und gab sich Mühe, uns von oben herab zu mustern, obgleich er doch nicht größer war als Jakob oder ich.
    »Ich fand diese Nachricht in meinem Zimmer«, sagte ich und hielt ihm den Zettel hin. Er nahm ihn entgegen, tat, als lese er, was darauf stand – zweifellos hatte er selbst es geschrieben –, und erwies uns dann in großzügiger Geste die Gnade, das Gemach betreten zu dürfen.
    »Die Gräfin Hochberg erwartet Sie bereits«, sagte er.
    Er mochte sich geben wie ein Lakai, doch seine Kleidung war eine Spur zu aufwändig und teuer für einen schlichten Diener. Er führte uns gemessenen Schrittes durch das Vorzimmer in einen weiteren Raum und von dort aus ins Empfangsgemach der Gräfin. Die Fenster waren lückenlos mit , Samt verhängt, den Boden hatte man mit dicken, flauschigen Teppichen ausgelegt, die jeden Schritt dämpften. Eine Vielzahl von Kerzen tauchte den Raum in ein sanftes gelbes Licht. Jede einzelne für sich war ein kleines Kunstwerk, Miniaturen griechischer Statuen und Heldenhäupter, wundersame Formen, allesamt aus Wachs geschaffen. Manche waren mit Parfüm versetzt, denn süßliche Düfte erfüllten das Gemach.
    »Luise Karoline Reichsgräfin Hochberg, geborene Geyer von Geyersberg«, verkündete der Mann formell, als wir vor die Gräfin traten. Sie saß in einem hochlehnigen Sessel und empfing uns wie eine Königin auf ihrem Thron. Während an Europas Höfen schon seit Jahren die verruchte Nacktmode umging – hoch geschlitzte Röcke aus hauchfeinen Stoffen und offenherzige Dekolletees –, legte die Gräfin Hochberg Wert auf sittsame Tradition. Sie trug Schwarz, vom Kinn bis zur Sohle, als habe es einen Trauerfall gegeben. Ihr Ausschnitt lag eng am Hals, der Saum des wolkigen Faltenkleides berührte den Boden. So finster und streng wie ihre Erscheinung war auch der Blick, mit dem sie uns beim Eintreten bedachte. Sie vertat keine Zeit mit Höflichkeiten.
    »Meine Herren«, sagte sie nur und

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