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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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kommen?«
    »Sag nicht, du gibst etwas auf das Gefasel dieses Irren?« Ich gab mir Mühe, sehr vernünftig zu klingen, sehr selbstsicher.
    Jakob hob die Schultern. »Dalbergs Verhalten war nicht gerade dazu angetan, mich vom Gegenteil zu überzeugen.«
    »Trotzdem bist du diesem Lord Stanhope ebenso gefolgt wie ich. Hätte er uns wirklich umbringen wollen, hätte er da draußen im Park die beste Gelegenheit gehabt.«
    »Von Umbringen war keine Rede, oder?« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Auch ich spürte, dass ein Schnupfen im Anzug war; kein Wunder bei all den Stunden, die wir draußen in der Kälte zugebracht hatten. Und die nächste Reise sollte bereits in wenigen Stunden beginnen. »Hadrian riet uns nur, uns vor diesem Stanhope in Acht zu nehmen.«
    »Ob es den Quinternio tatsächlich gibt?«, fragte ich.
    »Ich habe nicht die geringste Idee.«
    »Man sagt, Geheimnistuerei sei der Mantel der Banalität.«
    Er seufzte. »Aber es heißt auch, nichts sei gefährlicher als das Banale. Ein feines Unentschieden, würde ich sagen.«
    »Und nun?«
    Jakob hob die Schultern. »Du hast zugesagt, nicht ich. Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt.«
    Mein Blick fiel auf das Schreibpult, wo Feder und Papier bereitlagen. »Ich werde einen Brief schreiben.«
    »An die Geschwister?«
    »An Goethe.«
    »Hast du nicht gehört, was Dalberg gesagt hat: Es war Goethe, dem man den Posten als Erstem angetragen hat. Glaubst du etwa, er wüsste nicht, was hier vor sich geht?«
    »Ich fühle mich besser, wenn er es von mir erfährt. In meinen Worten. Falls mir irgendein Übel widerfährt, dann soll er genau wissen, was er mir angetan hat.«
    Jakob schnaubte verächtlich. »Ein Brief als Stimme des Gewissens? Glaubst du, das wird dir im Jenseits Befriedigung verschaffen?«
    Wütend funkelte ich ihn an. »Mal die Zukunft nur nicht zu rosig aus, mein Bester. Du bist mir wirklich eine große Hilfe.«
    Er stand auf und lächelte sanft. »Es tut mir Leid. Ich habe nur Angst um dich.«
    Wir umarmten uns, und jeglicher Bruderzwist war wie fortgewischt.
    »Ich fürchte mich auch«, gestand ich leise und löste mich von ihm. Ich trat ans Schreibpult und setzte mich. »Aber was bleibt mir schon übrig, als Dalbergs Angebot anzunehmen?«
    »Du könntest immer noch mit zurück nach Kassel gehen?«
    »Ach, Jakob«, seufzte ich. »Wir haben das schon hundertmal besprochen, und es bleibt dabei: Ich muss mein eigenes Geld verdienen.«
    »Die Aufregung wird deinem Herzen schaden.«
    »Dank der Kur bin ich nahezu gesund. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Und sicherlich werden wir uns schreiben können. Dalberg wird die Briefe weiterleiten.«
    »Und unsere Arbeit? Was wird aus dem zweiten Band der Märchen?«
    »Du glaubst doch nicht wirklich, dass der erste ein Erfolg wird! Ich meine, neunhundert Exemplare! Weshalb einen zweiten, wenn keiner den ersten will?«
    Zornesröte schoss Jakob ins Gesicht. »Das bist nicht du, der da spricht, Wilhelm. Das ist die Stimme deiner verdammten Schuldgefühle mir gegenüber.«
    »Vielleicht.« Was sollte ich sonst darauf antworten? Natürlich hatte er Recht.
    Wütend fuhr er herum und eilte mit großen Schritten zur Tür. »Ich habe Durst. Mal sehen, ob sich in diesem Gemäuer irgendwo Wasser auftreiben lässt.«
    »Warum klingelst du nicht einfach nach dem Diener?«, rief ich ihm hinterher, doch er war bereits zur Tür hinaus; polternd entfernten sich seine Schritte auf dem Flur.
    Mit bebenden Fingern begann ich, den Brief an Goethe zu schreiben. Ich schilderte jedes der Ereignisse, angefangen beim zerbrochenen Kutschenrad über die Begegnung mit Jade bis hin zum Treffen mit Dalberg im Park. Allein Hadrians Vergehen verschwieg ich; wir hatten ihm unser Ehrenwort gegeben.
    Zuletzt erwähnte ich, dass man uns vor einem gewissen Quinternio der Großen Fragen gewarnt habe, ohne auch hierbei den Doktor zu erwähnen. Ich bat Goethe um eine Erklärung, denn einer wie er musste zweifellos Näheres gehört haben.
    Ich hoffte nur, er würde den Brief einer Antwort für wert erachten. Goethe war bereits ein schwieriger Mensch gewesen, als wir ihn – unter denkbar schlechten Bedingungen – kennen lernten. In den Jahren, die seither vergangen waren, schien er noch eigenartiger geworden zu sein. Mal vergnügt und beinahe jugendlich, mal knorrig und in sich gekehrt. Wir hatten uns nicht häufig getroffen, ein halbes Dutzend Mal alles in allem, aber oft hatten uns Boten seine Briefe ins Haus gebracht. Jakob und ich

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