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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatten jeden einzelnen gemeinsam studiert und beantwortet.
    Nachdem ich das Schreiben beendet hatte, faltete ich es und schloss es mit Siegelwachs. Ich ließ es auf dem Schreibpult liegen. Ein Diener würde es am Morgen finden und weiterleiten.
    Wo blieb nur Jakob? Es musste fast eine Stunde vergangen sein, seit er fortgegangen war. War er gleich in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt? Gut möglich. Trotzdem begann ich, mir Sorgen zu machen. Zwar hatte Dalberg zusätzliche Soldaten in diesem Teil des Schlosses postiert, aber wirklich sicher fühlte ich mich nicht. Zu grausam, zu heftig schien mir der Zorn der Odiyan.
    Das Werkzeug des Scherenschleifers schrillte durch die Nacht. Die schrecklichen Laute bohrten sich wie Eisenstachel in mein Hirn, steigerten meinen inneren Aufruhr und meine Ungeduld. Herrgott, wie konnte man zulassen, dass solche Geräusche auch nachts noch die Schlossbewohner quälten?
    Eilig sprang ich zum Fenster und blickte hinüber zum einsamen Fenster des Scherenschleifers. Wieder war nur sein Schatten im Schein einer Kerze zu sehen, übergroß. Ein schlichter Mann, zum Teufel der Ohrenqual erkoren. Wie wünschte ich mir, ihn anzuschauen. Ihm meinen Zorn ins Gesicht zu brüllen. Doch statt seiner war da nur der riesige Schatten im offenen Fenster, ein Gespenst, nicht greifbar, nicht wirklich. Nur sein Getöse wehte herüber in die fassbare Welt.
    Da bemerkte ich eine Bewegung. Nicht im Fenster des Scherenschleifers, sondern am Boden, gleich unter mir in den vorderen Gärten des Schlosses. Eine Gestalt hob sich dunkel vom Schnee ab, entfernte sich eiligen Schrittes. Ein flatternder Mantel. Eine hochgeschlagene Kapuze. Nackte Füße. Und in der Hand der Madu, jene geheimnisvolle Waffe aus Antilopenhörnern. Kalas Fakirhorn.
    Ich federte einen Schritt nach hinten, als hätte mir der Anblick des Alten einen körperlichen Hieb versetzt. Ich hatte sein Gesicht nicht sehen können, und doch gab es keinerlei Zweifel: Er war es. Ich sah ihn davonrennen, mit weiten, insektengleichen Sätzen, die ihn durch die verschneiten Beete und über niedrige Hecken trugen. Wie konnte ein Mann seines Alters über solche Kräfte gebieten?
    Dann war er fort. Ich wischte über die feuchte Scheibe, in der Hoffnung, sie sei nur beschlagen und ich könnte doch noch sein Ziel erkennen. Doch da draußen war nichts mehr. Kein Kala, auch keine Wachen, die ihm folgten. Nur schwarze, samtene Nacht.
    Meine Beunruhigung, durch Jakobs Ausbleiben geschürt, wurde übermächtig. Wenn der Fakir es bis zur Mauer des Schlosses geschafft hatte, war er sicher auch im Inneren gewesen. Was aber hatte er hier zu suchen gehabt? Hatte er etwas stehlen wollen? Und war es ihm gelungen? Wollte er mit jemandem sprechen? Welche Verbündeten hatte der Unheimliche am Hofe?
    Auf dem Flur ertönte ein Scheppern. Glas klirrte. Zugleich ein dumpfer Aufschrei.
    Jakob!
    Ich fuhr herum und raste zur Tür. Riss sie auf. Starrte hinaus.
    Mein Bruder stand da, als habe ihn der Winter zu Eis gefroren. Seine Züge waren schneeweiß vor Schreck. Seine aufgerissenen Augen blickten zu Boden, über den zerbrochenen Wasserkrug und die glitzernde Pfütze hinweg. Blickten auf etwas, das sich zu meinen Füßen befand, gleich vor der Tür.
    Auch ich schrak zusammen, als ich es entdeckte. Es war eine Figur aus weißem Wachs, gerade mal zwei Handbreit hoch. Eine griechische oder römische Götterstatue, hoch gewachsen, muskulös. Ein Dolch steckte in ihrem Schädel, spaltete den wächsernen Leib bis zum Brustbein. Die Klinge war fast ebenso lang wie die Figur. Ein brennender Docht ragte aus einer Seite des geteilten Schädels und brannte langsam, ganz allmählich ins Gesicht hinunter. Die Züge der Statue waren weich und verformt, der Unterkiefer hinabgesunken zu einem stummen Schrei.
    Groteske und Grauen sind zwei finstere Schwestern, und sie eignen sich vortrefflich als Warnung. Es gab keinen Zweifel, wer sie uns gesandt hatte.
     

2
    D ie Kutsche stand am vereinbarten Treffpunkt. Vier Rösser warteten ungeduldig, heiße Atemwolken um die Nüstern, und mit ihnen warteten Dalberg und Stanhope. Der Lord schien kaum mehr von des Ministers Seite zu weichen, die graue Eminenz im Schatten der Macht. Zumindest machte ihn das berechenbar.
    Jakob begleitete mich, um Abschied zu nehmen. Ihm schien ebenso schwer ums Herz zu sein wie mir. Es war wohl gegen fünf Uhr in der Nacht gewesen, als ein Diener uns geweckt und zum Aufbruch gedrängt hatte. Wenig später schon waren wir, jeder

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