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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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während Gerard mein Gepäck in einer Kiste an der Rückseite des Gefährts verstaute. Ich winkte Jakob durchs schmierige Glas des Türfensters zu, dann blieben er und Dalberg hinter uns zurück. Die Tannen glitten vorüber, als die Kutsche das Halbrund der Bäume verließ und an seiner Außenseite einen Bogen einschlug.
    Wir rollten über eine der verschneiten Wiesen des Parks in Richtung Norden, als ich plötzlich den Umriss eines Menschen rechts von uns zwischen den Baumstämmen zu erkennen meinte.
    »Sehen Sie, dort!«, alarmierte ich Stanhope und wies durch das Fenster. Der Blick des Lords folgte meinem Finger. Heftig zog er an einem Strick, der eine Glocke draußen am Kutschbock zum Klingeln brachte. Gerard zügelte die Pferde.
    Stanhope packte etwas unter seiner Bank – eine Pistole! –, riss die Tür auf und sprang ins Freie. Mit großen Sätzen rannte er durch den Schnee auf die Baumgruppe zu, in der ich die Gestalt bemerkt hatte. Dort schaute er sich suchend um, die gespannte Waffe im Anschlag. Keine Menschenseele war zu sehen. Er blickte zu Boden und entdeckte etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Fußspuren!, schoss es mir durch den Kopf. Fußspuren im Schnee.
    Kurz darauf kehrte er zurück. »Sie hatten Recht«, sagte er. »Dort war jemand. Er ist nach Osten gelaufen.«
    »Wollen wir ihn verfolgen?«, fragte ich, ein wenig ängstlich.
    »Nein. Unsere Mission ist eine andere. Falls wir unser Ziel heil erreichen wollen, müssen wir schnell handeln. Wer weiß, wie lange Dalberg unsere Abreise geheim halten kann.«
    Was gab es da geheim zu halten? Schließlich waren nur er selbst und Jakob dabei gewesen. Stanhopes Worte konnten nur bedeuten, dass es trotz allem Mächte im Schloss gab, die früher oder später davon erfahren würden. Vielleicht ließ die Gräfin Hochberg Tag und Nacht das Gelände beobachten, zuzutrauen war es ihr. Andererseits musste sie doch froh sein, dass ich, und bald auch Jakob, fort waren. Ich dachte an die gespaltenen Wachsfiguren mit den schreienden Mündern.
    Die Kutsche preschte los, und diesmal gab Gerard den Pferden gnadenlos die Peitsche. Stanhope musste ihn zu noch größerer Eile getrieben haben.
    Während der ersten halben Stunde schwiegen Stanhope und ich beharrlich. Er hatte meine Abneigung sicherlich bemerkt, obgleich mir seine eigene Ruhe eher Zeichen äußerster Konzentration zu sein schien. Ich war drauf und dran, ihn nach dem Quinternio zu fragen, beherrschte mich aber. Es mochte später noch Gelegenheit geben, seine Loyalität zu prüfen; vorausgesetzt, er erwies sich nicht schon vorher als Agent der Gegenseite. Doch irgendwie war mir, als sei meine Unruhe unbegründet, ja, umso länger ich ihn verstohlen betrachtete, desto wärmer schien mir sein Wesen, und desto eher vertraute ich ihm. Dass ich gar keine andere Wahl hatte, mochte diese Entscheidung erleichtern.
    Gerard jagte die Pferde einen Hohlweg entlang, dessen Dach aus Zweigen die Schneemassen vom Boden fern gehalten hatte. Nichts behinderte unser eiliges Fortkommen. Noch immer herrschte Dunkelheit, und obgleich Gerard die beiden Öllampen am Kutschbock entzündet hatte, musste die Sicht erbärmlich sein. Trotzdem lenkte er uns sicher durch die Nacht.
    Den Schlosspark hatten wir schon lange hinter uns gelassen. Dalberg hatte dafür gesorgt, dass eines der Tore just im Augenblick unserer Durchfahrt unbewacht war. Unsere Reise – mir schien es mehr wie eine Flucht – war bis ins Kleinste vorausgeplant. Ein Trost, wenn auch ein schwacher.
    Schnell aber sah ich mich Auge in Auge mit einem anderen Feind: der Langeweile. Ich verfluchte die mangelnde Voraussicht, kein Buch aus meinem Gepäck mit in die Kabine genommen zu haben. Gerade war ich dazu übergegangen, die Schlaglöcher auf unserem Weg zu zählen und im Geiste nach Tiefe und Erschütterung zu katalogisieren, als Stanhope sich entschloss, dem ehernen Schweigen ein Ende zu machen. Endlich, dachte ich, und verwarf die Löcherliste.
    »Wir sollten uns besser kennen lernen«, sagte er. Sein Akzent war unüberhörbar, stand aber niemals seinem korrekten Satzbau im Wege. Allein die Betonung verriet seine Herkunft. »Meinen Namen kennen Sie bereits, und ich den Ihren«, fuhr er fort. Um seine Mundwinkel bildeten sich Grübchen der Heiterkeit. »Mir scheint, Sie hegen eine gewisse Abneigung gegen meine Person. Verdanke ich das einer allgemeinen Skepsis gegenüber Angehörigen des Adels oder gegenüber den Söhnen Englands im Allgemeinen? Habe ich gar

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