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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vorgenommen werden: Die Entenfuß-Paddel, die er am Rumpf angebracht hatte, mussten weichen – sie brachten es nur auf drei Knoten Geschwindigkeit.«
    Woher der Name Anti-Navigator-Schiff rührte, schien Stanhope keiner Erwähnung wert, und ich fragte nicht danach. Noch immer sprach er weiter, berichtete von merkwürdigen Experimenten und skurrilen Versuchen. Meine Verwunderung aber erregte weniger der Forscherdrang des alten Lords als vielmehr die Redseligkeit Stanhopes, die in krassem Widerspruch zur düsteren Aura seines bisherigen Auftretens stand.
    »Bei uns Kindern waren vor allem die Feuerexperimente meines Vaters beliebt«, setzte Stanhope seinen Bericht fort. »Einmal ließ er im Park ein Holzhaus erbauen, in dem allerlei brennbares Zeug angehäuft wurde, Reisig, Stroh, sogar Fässer mit Pech. Vater wollte beweisen, dass jedes Feuer ohne die Beigabe von Sauerstoff erlischt. Als Versuchspersonen lud er allerlei illustres Volk ein, etwa den Oberbürgermeister von London, mehrere Ratsherren, Mitglieder der Royal Society, und so weiter und so fort. Sie nahmen im oberen Stockwerk des Hauses zu einem Festmahl Platz und machten sich über ein enormes Bankett her, während mein Vater das Haus samt Inhalt in Brand steckte! Stroh und Reisig brannten lichterloh, doch weder Gebäude noch Besucher nahmen Schaden. Weiß der Himmel, wie er das gemacht hat. Irgendwie jedenfalls ist es ihm gelungen, dem Holz den Sauerstoff zu entziehen.«
    So ging es weiter, sicherlich zwei Stunden lang, in denen Stanhope mir von einer Sitzwaage berichtete, mit der Gäste nach dem Essen ihr Gewicht ermitteln konnten; von einer erfolgreichen Druckpresse; von Rechenapparaten, einem wundersamen Mikroskop und sogar einer neuartigen Mörtelmischung, die sein Vater auf die Erkenntnisse der alten Römer zurückgeführt hatte.
    So ermüdend dieser Vortrag mit der Zeit auch wurde – der Leser sollte dankbar sein, dass ich ihm die Einzelheiten erspare –, so zeigte sich dabei der Lord doch in einem völlig neuen Licht. Von der grauen Eminenz, wie ich ihn eben noch nannte, wandelte er sich zum weltoffenen, fast geschwätzigen Reisegenossen, der mir bei aller Länge seiner Rede doch aufs Trefflichste die Zeit vertrieb.
    Über den Wäldern zog allmählich der Morgen herauf, und immer noch jagte die Kutsche ohne Unterbrechung dahin.
    »Wissen Sie, wann wir in den Schlitten wechseln sollen, von dem Dalberg sprach?«, fragte ich, als Stanhope eine kurze Pause einlegte.
    Der Lord schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Dalberg ließ mich ebenso im Unklaren über den Verlauf der Reise wie Sie, Herr Grimm. Mein Freund meinte ernst, was er sagte, als er von der strengsten Geheimhaltung sprach. Allein Gerard scheint Bescheid zu wissen.«
    Wir waren nun etwa zweieinhalb Stunden vom Schloss entfernt, und ich fragte mich, wie weit das in Meilen sein mochte. Doch in der Finsternis war es bislang unmöglich gewesen, unsere Geschwindigkeit zu bestimmen. Sicher war mir die Fahrt schneller vorgekommen, als Schnee und Eis dies tatsächlich zuließen.
    Stanhope verlegte sich nun auf das Erzählen kauziger Witze, die ihn selbst aufs Höchste belustigten, mich aber vollkommen gleichgültig ließen. Man hört ja gelegentlich vom eigenwilligen Humor der Engländer, und nun kam ich erstmals persönlich in seinen zweifelhaften Genuss.
    Gerade hatte der Lord eine besonders abstruse Pointe zum Besten gegeben, als mit einem Mal ein Krachen ertönte. Die Pferde scheuten, das ganze Gefährt wurde durchgeschüttelt und drohte einen Augenblick gar umzukippen, blieb dann aber unbeschädigt stehen. Mein Kopf war an die Wand gestoßen, er schmerzte, und ich sah bunte Schleier vor den Augen. Trotzdem konnte ich nicht umhin, Stanhopes Kühnheit zu bewundern. Der Lord packte seine Pistole mit der Linken und zog mit der Rechten einen blitzenden Offizierssäbel unter der Bank hervor. Mit einem Tritt öffnete er die Tür und sprang heldenmütig ins Freie. Ein weiterer Schuss ertönte, und genau dort, wo Stanhope eben noch gesessen hatte, schlug eine Kugel splitternd ins Holz der Kabinenwand. Vor Entsetzen fuhr ich zusammen und machte mich ganz klein auf meinem Sitz, während der Lord nicht einmal zuckte. Stattdessen sah ich ihn anlegen und abdrücken. Erst schnappte der eine, dann der andere Pistolenhahn herunter. Zwei Pulverdonner krachten, jeder von einem Aufschrei gefolgt. Zwei Gegner weniger.
    Eine neuerliche Kugel ließ das Holz neben meinem Ohr zerbersten, ich

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