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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fahrgäste mussten mich längst bemerkt haben.
    »Jakob?«, rief ich zum Schlitten hinüber.
    Niemand antwortete. Der Kutscher beobachtete mich mit unsichtbaren Augen aus dem Schatten seines Hutes. Sein Anblick ließ mich stärker frösteln als die eisige Kälte. Ich wartete nicht länger, sprang zurück und stemmte mich von innen gegen das Tor. Mit lang gezogenem Quietschen schloss sich der verzogene Flügel.
    »Sie sind ein wahrer Held«, beschimpfte mich Jade, und diesmal klang es wirklich zornig. »Wie kann man nur so dumm sein!«
    »Aber ich dachte – «
    »Ich bewundere Ihr Denkvermögen.« Sie bückte sich, nahm ein glimmendes Scheit aus dem Feuer und schwenkte es rasch durch die Luft, bis neue Flammen aus dem verkohlten Holz züngelten. Geschickt warf sie mir die Fackel zu. Ich fing sie auf, nicht ganz so geschickt.
    »Wo wollen Sie hin?«, fragte ich, während sie sich bemühte, Kala auf die Beine zu ziehen. Er bewegte sich schwerfällig, war aber noch nicht wirklich bei Bewusstsein. Eine Flucht mit ihm war ausgeschlossen.
    »Tiefer in die Ruine«, entgegnete sie. »Wir verstecken uns.«
    »Und wenn es wirklich Jakob ist?«, fragte ich kleinlaut.
    Sie lachte abfällig. »Schauen Sie hinaus und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
    Das Entsetzen verschlug mir die Sprache. Vier schwarz gekleidete Gestalten waren aus dem Schlitten gestiegen und kamen nun gemäßigten Schrittes auf das Tor zu. Sie hatten keine Eile, mussten sich ihrer Sache sehr sicher sein. Jeder hielt einen Säbel in der Hand. Alle vier trugen die Raubvogelmasken der Odiyan. Hinter ihnen am Waldrand traten weitere Vogelmänner aus dem Dickicht. Der Kutscher löste derweil seine Schals und zog den Hut vom Kopf. Sein kahler, tätowierter Schädel glänzte im Schein der grellen Wintersonne. Die weiten Gewänder des Catay-Priesters flatterten, als er sich in kühnem Sprung vom Kutschbock schwang.
    Mit wenigen Sätzen war ich bei Jade und Kala. Der Fakir vermochte noch immer nicht zu stehen, und so nahm ich ihn kurzerhand auf den Arm wie ein Kind. Jade schenkte mir trotz ihrer Wut einen dankbaren Blick, dann packte sie mit einer Hand einen Säbel, mit der anderen nahm sie mir die Fackel ab.
    »Woher wussten Sie es?«, fragte ich, während wir losliefen, tiefer ins Innere der Ruine.
    »Witterung«, entgegnete sie knapp – was immer sie damit meinen mochte.
    Jade rannte voraus, ich mit dem Fakir hinterher. Ich verfluchte mich für mein Ungeschick. Allerdings wog mein Fehler nicht allzu schwer; die Odiyan mussten längst gewusst haben, dass wir hier waren.
    Wir liefen einen Gang hinab, der vor einer Treppe endete. Die Stufen führten nach oben in den ersten Stock, aber auch nach unten in die Gewölbe der Abtei. Ich hätte mich für die Keller entschieden, doch Jade stürmte ohne zu zögern die Stufen hinauf.
    »Glauben Sie nicht, wir könnten uns unten besser vor denen verstecken?«, keuchte ich im Laufen.
    »Natürlich«, gab sie zurück. »Aber wenn sie uns entdecken, bleibt uns kein Fluchtweg. Hier oben können wir wenigstens noch aus den Fenstern springen.«
    »Vorausgesetzt, sie kreisen die Ruine nicht ein.«
    »Ja, vermutlich werden sie das tun.«
    Ich wünschte, ich hätte die Stufen im Rhythmus meines Herzschlags nehmen können – welch rasender Lauf wäre das gewesen. Aus der Eingangshalle ertönte ein Donnern, als das Haupttor aufgetreten wurde. Dem folgte, schier endlos, das Kreischen der verrosteten Scharniere. Der Laut folgte uns noch, als wir den oberen Treppenabsatz erreichten und durch einen ausgebrannten Saal liefen. Verkohlte Reste von Holzbänken lagen verstreut umher; die Feuchtigkeit hatte sie aufgeweicht und den Boden in einen Aschesumpf verwandelt. Die Oberfläche war gefroren, aber mit jedem Schritt brachen meine Stiefel durch die Eiskruste und versanken knöcheltief in schwarzem Schlamm. Immer wieder drohten wir über Trümmer zu stolpern. Ich erinnerte mich an die eingestürzte Decke der Eingangshalle. Es blieb nur zu hoffen, dass dieser Teil des Stockwerks weniger baufällig war.
    Bald schon waren die hämmernden Stiefelabsätze der Odiyan hinter uns auf der Treppe zu hören. Wir durchquerten ein Labyrinth ausgeglühter Flure und Kammern. Viele waren vollkommen leer. Wahrscheinlich waren sie das schon gewesen, als noch die Mönche in diesen Mauern lebten, steinerne Spiegel ihrer Genügsamkeit.
    Wir bogen gerade um eine Ecke, als Jade wie angewurzelt stehen blieb. Über ihre Schulter hinweg erblickte ich vier Vogelkrieger, die

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