Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
war Jade, doch sie war mit ihren beiden Gegnern vollauf beschäftigt. Und Kala war immer noch ohne Bewusstsein. Ich war auf mich allein gestellt.
    Etwas lenkte mich ab. Ein metallisches Blitzen zog meinen Blick auf den unteren Rand der Vogelmaske. Und da hing sie, Vaters Taschenuhr, an einer Kette über der Brust des Odiyan. Das hatte der Zufall trefflich eingerichtet! Der Mann, der mich töten würde, war derselbe, der mir zuvor die Uhr gestohlen hatte. Ein teuflischer Streich des Schicksals, in der Tat.
    Doch der Anblick der Uhr, das letzte Erinnerungsstück meines toten Vaters, bewirkte etwas in mir. Und während der Odiyan noch den Säbel hob, um mir den Garaus zu machen, warf ich mich kühn nach vorne. Der Angriff traf ihn unerwartet. Er hatte erlebt, welch miserabler Fechter ich war, und sicher hatte er keinen Tropfen Kriegerblut in mir vermutet. Todesmut – nein, das war es nicht. Allein Vaters Uhr brachte meinen Zorn zum Sieden, verwandelte meine Angst in Mordlust.
    Ich prallte gegen ihn mit aller Kraft und brachte ihn zum Wanken. Seine Säbelspitze prallte gegen eines der Räder, glitt ab, geriet zwischen die eisernen Zähne und zerbarst. Meine Finger krallten sich um die Uhr, rissen daran. Die Kette hielt stand, und der Vogelkopf des Odiyan schoss nach vorn, es sah aus, als hacke er mit dem Schnabel nach meinem Gesicht.
    Seine Überraschung wandelte sich nun ebenfalls in Wut. Er packte mich und drückte mich mit dem Rücken gegen ein Zahnrad. Ich spürte das mahlende Eisen unter meinen Schulterblättern. Noch immer hielt meine Rechte die Uhr, zerrte daran. Der Odiyan verstärkte den Druck auf meinen Oberkörper. Das metallische Schleifen in meinem Rücken wurde härter, schmerzhafter. Er ließ mich mit einer Hand los, packte damit meine Stirn und schob mit Gewalt meinen Kopf nach hinten. Da erst wurde mir bewusst, dass er versuchte, meinen Schädel zwischen zwei Räder zu drücken.
    Mein Knie ruckte hoch, traf seinen Magen. Es kümmerte ihn nicht. Ein zweiter Tritt, dann ein dritter. Diesmal zuckte er zusammen. An den Haarspitzen fühlte ich bereits die Schnittstelle der beiden Zahnräder, kreisend, unerbittlich. Gleich musste mein Hinterkopf auf Eisen stoßen.
    Noch ein Tritt mit dem Knie. Der Druck auf meinen Oberkörper ließ nach, nicht aber der auf meinen Kopf. Trotzdem genügte mir der Augenblick seiner Schwäche. Ich stieß mich mit den Füßen von den Rädern ab, ohne zu sehen, wohin ich sie setzte; es war Glück, dass sie nicht zwischen die Zähne gerieten. Der Stoß brachte den Odiyan aus dem Gleichgewicht. Diesmal war er es, der nach hinten taumelte. Plötzlich verschwand seine Hand aus meinem Gesicht, mein Kopf war frei. Ich versuchte, ihn noch einmal zu treten, doch mein Knie stieß ins Leere. Einen Moment lang glaubte ich, der Odiyan weiche zurück, glaubte sogar noch daran, als ich hinterhersetzte und nach ihm schlug. Dann erst begriff ich, dass seine Gürtelschärpe sich auf der anderen Seite des Spalts zwischen den Rädern verfangen hatte. Unerbittlich zog sie ihn zurück. Seine Hände griffen nach mir, Hilfe suchend diesmal, doch ich wich ihnen aus. Er begann zu schreien.
    Im letzten Augenblick schloss sich meine Faust zum zweiten Mal um die Uhr. Die Hände des Odiyan packten meinen ausgestreckten Arm, aber es war nur ein blindes Krallen, kein Angriff. Seine Hüfte wurde enger an die Räder gezogen, zugleich schlug sein Kopf nach hinten, das Gefieder wurde von Eisenzähnen zermahlen. Einen Herzschlag später verschwand die Maske in einer Explosion aus roten Federn. Die Uhr war frei, ohne dass die Kette zerriss.
    Das Klammern der Hände ließ schlagartig nach. Taumelnd prallte ich zurück, stolperte, fiel, kroch auf allen vieren aus dem Uhrwerk. Blieb atemlos liegen, einen roten Schleier vor den Augen. Mein Gesicht, meine Kleidung, alles war nass.
    Es dauerte eine Weile, ehe ich wieder einigermaßen klar denken konnte. Als ich zu Jade hinübersah, bemerkte ich, dass sich der Kampf in einen anderen Teil der Kammer verlagert hatte, dorthin, wo Kala lag. Einer ihrer beiden Gegner war tot, doch bevor er starb, hatte er seinen Säbel in die Brust des Fakirs gerammt. Die beiden Leichen lagen übereinander in ihrem Blut.
    Jade kämpfte mit letzter Kraft, angetrieben von Hass und Verachtung für die Mörder ihres Lehrmeisters. Schließlich gelang es ihr, einen siegreichen Schlag zu führen, sterbend sank der letzte Odiyan zu Boden. Zugleich bemerkte ich das Hämmern und Brüllen am Eingang. Die

Weitere Kostenlose Bücher