Die Winterprinzessin
Nachdrängenden.
»Jade, hierher!«, schrie ich, um den Lärm zu übertönen. Im Turm mochte es ihr leichter fallen, gegen die Übermacht zu bestehen.
Obwohl ihr keine Zeit blieb, sich nach mir umzuschauen, schien sie zu begreifen. In der linken Hand hielt sie noch immer die Fackel, führte damit gelegentlich Schläge zur Ablenkung. Jetzt aber stieß sie die Fackel machtvoll nach vorne, mitten ins Vogelgesicht ihres Gegners. Sogleich sprang das Feuer auf das trockene Gefieder über. In Sekunden ging die Maske in Flammen auf. Der Odiyan schrie wie am Spieß, versuchte sich die Maske vom Kopf zu reißen, verbrannte sich dabei die Hände und kreischte nur noch lauter. Seine Arme wedelten wild umher, er taumelte zurück, mitten unter seine Gefährten. Die Inder vor der Tür stoben auseinander und verschafften Jade so die nötige Atempause, um zu mir und Kala ins Treppenhaus zu klettern.
»Laufen Sie nach oben!«, befahl sie gehetzt. »Ich versuche sie aufzuhalten.« Ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht nass von Schweiß. Ein wildes Flackern war in ihren Augen, der Blick eines Raubtiers, das Blut geleckt hat. Es gab keinen Rausch, der ihr fremd war.
»Was kann ich tun?«, fragte ich hilflos.
»Nichts. Nur laufen Sie!«
Mit Kala im Arm stieg ich die Stufen hinauf, während der Lärm in der Kammer anschwoll. Die Schreie des brennenden Odiyan waren verstummt, und nun drängten die übrigen heran, wütender als zuvor. Eine Klinge stach durch die zerborstene Tür in den Treppenschacht. Jade parierte sie und erwiderte die Attacke. Ich weiß nicht, ob sie traf, denn nun versperrte mir die Mittelsäule der Wendeltreppe den Blick. Allein die Laute des Kampfes waren noch zu hören.
Immer höher und höher stieg ich, kam an zwei weiteren verriegelten Türen in der Seitenwand vorbei und erreichte schließlich die obere Turmkammer. Sie war angefüllt mit riesigen, surrenden Zahnrädern. Wir befanden uns inmitten des Mechanismus, der die gewaltigen Zeiger der Turmuhr in Bewegung hielt. Ich hatte dergleichen nie zuvor gesehen, und trotz aller Angst und Verzweiflung bannte mich der Anblick für einen Moment. Rundum nichts als enorme Räder, die ratternd ineinander griffen, wie Mühlsteine aus Metall.
Jade hetzte hinter mir die Stufen herauf. Die Odiyan waren ins Treppenhaus durchgebrochen.
Sie war völlig erschöpft, schnappte nach Atem wie ein Ertrinkender. Die Fackel hatte sie verloren. Ihr Vorsprung verschaffte ihr einen Augenblick der Ruhe, doch schon wenig später wälzte sich das Getümmel der Odiyan den Schacht herauf. Jade stellte sich ihnen entgegen, konnte aber nicht verhindern, dass die ersten in die Turmkammer eindrangen. Auch sie schienen für einen winzigen Moment vom Anblick der Zahnräder abgelenkt, was Jade Gelegenheit gab, nachzusetzen und einen von ihnen niederzustrecken.
Ich legte Kala in einer Ecke der Kammer ab und umrundete vorsichtig die Kämpfenden. Vier Odiyan befanden sich im Raum, einer davon reglos am Boden. Weitere lärmten im Treppenhaus. Bevor sie den oberen Absatz erreichen konnten, warf ich die schwere Tür ins Schloss. Ein wuchtiger Riegel lehnte daneben an der Wand, und ehe einer der drei Odiyan es bemerken konnte, hatte ich den Balken bereits in die Verankerung geworfen. Eine Zeit lang würde er die übrigen Krieger aufhalten.
Im selben Moment ruckte eine der Vogelfratzen zu mir herum. Der Odiyan entdeckte, was ich getan hatte, löste sich aus dem Kampf mit Jade und kam auf mich zu. In Todesangst bückte ich mich und packte den Säbel des toten Kriegers. Ich hatte nie im Leben gefochten, abgesehen von einigen Hieben und Stichen während meiner Studienzeit, und so war mein Griff nach der Waffe nichts als eine leere Geste. Die Maske des Odiyan glich einem gewaltigen Habicht, mit scharfem Schnabel und runden, kohlschwarzen Augen. Allein sein Anblick ließ mich erzittern, und so dauerte es keine drei Atemzüge, da hatte mich mein Gegner schon entwaffnet. Ich tauchte unter einem schrecklichen Hieb hinweg und zwängte mich Schutz suchend in einen Spalt des Uhrenmechanismus. Rechts und links von mir, kaum eine Handbreit entfernt, schleiften die Zahnräder übereinander, keines kleiner als ein Wagenrad, manche gar doppelt so groß. Der Spalt selbst war nur wenige Schritte tief, fünf oder sechs, dann endete er vor der Mauer des Kirchturms. Von hier aus gab es keine Möglichkeit, zu entweichen.
Der Odiyan folgte mir. Ich starrte in sein Habichtgesicht, während er näher kam. Meine einzige Hoffnung
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