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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mir«, widersprach ich.
    »Nicht, wenn er immer noch Stanhopes Freund ist.«
    »Sie glauben, das hier haben wir dem Engländer zu verdanken?«
    »Wem sonst?« Erstmals, seit sie ans Fenster getreten war, sah sie mich an. »Stanhope ist nach Karlsruhe zurückgekehrt und hat Dalberg von den indischen Verschwörern berichtet, die sich in den Wäldern verborgen halten. Der Minister muss alle seine verbliebenen Truppen in Bewegung gesetzt und hierher geschickt haben.«
    Falls es so war, wie Jade sagte – und daran bestand in der Tat kaum Zweifel –, musste Stanhope seinem Freund auch mein eigenes Verhalten geschildert haben. In Dalbergs Augen war ich damit ein Verräter, und ich würde mich verantworten müssen. Das war schlimm, gewiss, doch schlimmer war, was Jade erwartete – man würde sie auf der Stelle hinrichten.
    »Sie müssen sich verstecken«, rief ich aus, voller Sorge um die – ja, was war sie? Freundin? Geliebte? Oder einfach nur Gefährtin?
    Jade trat vom Fenster zurück. »Die Soldaten werden die Ruine durchsuchen und mich früher oder später aufspüren. Da ist es besser, ich komme ihnen zuvor.«
    Voller Entsetzen starrte ich sie an. »Sie wollen mit denen kämpfen?«
    Sie bückte sich nach einem Säbel, der zwischen den Leichen am Boden lag. »Um noch mehr Leid zu bringen? Noch mehr Tote? Nein, Herr Grimm, ich werde nicht kämpfen.«
    Da begriff ich, was sie plante. Schon hatte sie die Spitze des Säbels auf ihr eigenes Herz gerichtet. Sie schloss die Augen und umfasste den Griff mit beiden Händen, bereit, mit aller Kraft zuzustoßen.
    »Nein!«, schrie ich auf, stieß mich vom Fenster ab und stürzte auf sie zu.
    Und obwohl doch die Räder der Turmuhr weiterliefen, kam es mir vor, als bliebe die Zeit stehen. Unendlich träge waren meine Bewegungen. Wie am Grunde eines klaren Sees trieb ich auf sie zu, holte aus, schrie noch einmal – dann war ich heran.
    Und kam zu spät.
    Die Säbelspitze durchstieß ihre Haut im selben Augenblick, da ich gegen sie prallte. Bohrte sich in ihr Fleisch, tief, so tief. Wir stürzten gemeinsam, ich brüllend, heulend, sie ohne einen Laut. Ihre Hände lösten sich vom Säbelgriff, doch die Waffe stak handbreit in ihrem Leib.
    Jades Augen waren geschlossen. Ich beugte mich über sie und sah, dass mein Stoß die Waffe im letzten Augenblick von ihrem Herzen fortgelenkt hatte; die Klinge war durch ihre Seite gefahren.
    Atmete sie noch? Nein, es waren nur Zuckungen, die ich für Atmen hielt, ihr letzter Kampf gegen den schwarzen Schnitter. Ich sprang zur Tür, stemmte den Riegel herunter, riss sie auf. Dann hob ich Jade mit beiden Armen vom Boden, wagte nicht, den Säbel aus der Wunde zu ziehen, aus Furcht, sie würde auf der Stelle verbluten. Aber sie war doch schon tot, nicht wahr? Lebte doch längst nicht mehr. Ich drückte sie fest an mich, taumelte zur Tür, die Treppe hinunter, schwindelnd und fast blind vor Tränen, durch den zerborstenen Einstieg, über die Leichen der Odiyan hinweg. Quer durch den ersten Stock der Abtei bis zur nächsten Treppe und weiter hinab ins Erdgeschoss.
    Als ich ins Freie stolperte, die leblose Prinzessin im Arm, war der Kampf beendet. Gerade fielen die letzten Odiyan im Donner der Gewehre. Pulverdampf lag wie Nebel über der Lichtung. Überall Leichen, die meisten schwarz gekleidet und mit Vogelmasken, nur wenige in Uniform.
    Zwei Soldaten liefen mir entgegen, ließen ihre Waffen sinken. Weitere kamen hinzu. Verwirrung in ihren Blicken, Hilflosigkeit ob meiner verzweifelten Rufe. Ich fiel in die Knie, presste Jade weiter an mich. Ich würde sie nicht loslassen, niemals.
    Dann, eine Kutsche. Zwei Umrisse eilten durch den Pulvernebel. Der eine war Dalberg, der zweite – Jakob! Weiter hinten eine dritte Gestalt, seltsam gebeugt, in weiten Gewändern. Sie blieb zurück, fast unsichtbar, wie ein Geist, ein Schemen.
    Jakob beugte sich zu mir herab, schrie nach einem Arzt. Er entdeckte mit aufgerissenen Augen den Säbel in Jades Körper, glaubte wohl, das Odiyanblut, das uns bedeckte, wäre das ihre. Um uns herum ein Pulk von Leibern in Uniform. Jemand drängte zwischen ihnen hindurch. Der Arzt vielleicht.
    »Wo ist Stanhope?«
    Dalbergs Stimme. Noch einmal: »Wo ist Stanhope?«
    Warum fragte er das? War er denn nicht – Dalbergs Gesicht, ganz groß vor meinen Augen. »Haben Sie Stanhope gesehen, Herr Grimm?«
    »Er ist – fort«, stöhnte ich.
    Also war er nicht in die Stadt zurückgekehrt. Noch verstand ich nicht, was das bedeutete.
    »Woher

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