Die Winterprinzessin
wusstet ihr, dass wir hier waren?«, fragte ich mit ersterbender Stimme, so leise, dass kaum jemand sonst es verstehen konnte.
»Von ihr«, flüsterte Jakob. Oder …? Doch, ja, es war Jakob, der gesprochen hatte.
Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Die Gestalt – es war kein Arzt – war jetzt herangekommen, gebückt, sehr alt. Dieselbe, die eben noch im Pulverdampf schwebte.
Mein Oberkörper schwankte, drohte vornüber zu kippen, über Jade. Jakob hielt mich fest. Mein Blick hing noch immer an der Fremden. Ich erkannte sie.
Ich spürte, wie mein Bewusstsein schwand. Jemand versuchte meine Hände von Jades Leib zu lösen. Ich sträubte mich – vergeblich.
Die Gestalt, mein Gott!
Aber warum ausgerechnet sie? Was tat sie hier?
Ohnmacht. Ohne Macht. Wie treffend.
Das Letzte, was ich sah, waren ihre Züge, die Faltensterne um ihre Augen.
Die uralten Augen der Märchenfrau.
D RITTER T EIL
Schmetterlingsgeist – Schlingen und Schlaufen –
Die Jagd beginnt – Anprobe für eine Tote –
Kreuzweg gleich Scheideweg? – Stanhope gräbt ein Loch
Große Fragen an den Quinternio – Kein Abschied –
Der Winterling und die letzte Freiheit
1
D er Scherenschleifer. Selbst durch Schlafes Daunen drang das Kreischen seines Werkzeugs. Stein auf Metall, Metall auf Stein. Es stach in meinen Geist, löschte die eine Finsternis und brachte eine andere. Ich riss die Augen auf, ganz weit, bis es wehtat, und sah – nur Dunkelheit.
Und doch, ein wenig Licht war da, Mondschein, der sich auf verschneiten Dächern und Straßen fing und die Schwärze der Nacht mit fahlem Grau durchsetzte. Da waren Formen, erst vage, dann immer deutlicher. Die Einrichtung meines Zimmers. Ich war wieder im Schloss.
Das Schleifen, immer wieder dieses unheimliche Schleifen aus dem einzigen erleuchteten Zimmer gegenüber.
Aber da waren noch mehr Geräusche, eine Kette von weichen, kaum hörbaren Lauten, nicht so weit entfernt wie das Jammern des Schleifsteins, näher, sehr viel näher. Hier im Zimmer – oder, nein, vor der Tür. Draußen auf dem Flur!
Es waren Schritte, leichte, beinahe tänzelnde Schritte. Und dazwischen immer wieder etwas anderes, ein Flattern, aber nicht von Stoff, sondern rhythmischer, fast wie – großer Gott, wie Flügelschlagen!
Ich fuhr auf und horchte. Da, ja, da war es immer noch. Es schien vor meiner Tür zu verharren, nicht still, immer noch auf und ab tretend, aber ohne sich zu entfernen. Irgendwer, irgendetwas tänzelte vor meiner Tür. Und dazu immer wieder das Flattern.
Wie im Traum schwang ich die Beine über die Bettkante. Ich hatte keine Schmerzen. Auch sah ich keine Bandagen an mir. Offenbar war ich unverletzt. Meine nackten Füße berührten den eisigen Boden, suchten nach dem Vorleger, fanden ihn. Dann stand ich aufrecht, unschlüssig, was zu tun sei, und wieder einmal voller Angst. Doch diesmal war es eine Angst von anderer Qualität, nicht jene gehetzte, brutale Furcht, die mir die Odiyan eingeflößt hatten. Ein feineres, sehr viel schärferes Grauen durchschnitt meine Gedanken wie eine Rasierklinge und fand zielsicher die zarten Fasern, an denen es mich packen konnte.
Flügelschlag und Tanzen, gleich vor meiner Tür! Mitten in der Nacht, in völliger Dunkelheit. Durch den Türspalt fiel kein Licht, nicht einmal Kerzenschimmer. Dann – Flüstern. Leises, samtiges Flüstern. Ein behutsamer Singsang, wie ein Kinderlied, nur ungleich zärtlicher, sanfter, gedämpfter. Und ein Hauch von Kichern.
Ich machte erst einen Schritt, dann noch einen, kämpfte mich in völliger Lautlosigkeit vorwärts, bis mich nur noch eine Mannslänge von der Zimmertür trennte. Im selben Augenblick begannen sich die Geräusche zu entfernen, flatterten leise den Flur hinunter.
Ich überwand das letzte Stück bis zur Tür. Unsicher streckte ich die Hand aus, umfasste die Klinke. Kühl lag sie in meinen Fingern. Ich drückte sie langsam hinunter, überaus vorsichtig und in steter Bereitschaft, zurückzuspringen. Doch nichts geschah. Niemand stieß die Tür nach innen und stürzte sich auf mich. Niemand sprang mir entgegen. Niemand war da.
Der Flur vor meiner Tür war leer, so schien es mir. Das Mondlicht vom Fenster reichte wohl bis zur Mitte des Zimmers, nicht aber bis hinaus auf den Gang. Lediglich von einem anderen Fenster, am Ende des Korridors, fiel ein sanfter Schein herüber, doch reichte er nicht aus, die prunkvollen Bilderrahmen und barocken Möbelstücke an den Wänden zu erhellen,
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