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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geschweige denn, die Schatten in Nischen und hinter ausgestellten Rüstungen.
    Unendlich zaghaft schob ich meinen Kopf vor, blickte den langen Flur hinunter. Erst nach links. Dort war in der Ferne das graue Rechteck des Fensters zu sehen, sonst nichts. Auch keine Silhouette, die sich davon abhob. In dieser Richtung war der Gang leer.
    Ich sah nach rechts. Etwa zehn Schritte entfernt glaubte ich im Dunkeln eine Bewegung zu erkennen. Und, ja, da war es wieder, das nahezu tonlose Wispern, das Auf – und Abspringen weicher Sohlen, und auch das Flattern. Nur erkennen konnte ich nichts.
    Vorsichtshalber blickte ich zu meinen Füßen hinab. Meine erste Vermutung, die Gräfin Hochberg habe erneut einen ihrer Lakaien mit Wachsfiguren vorbeigeschickt, erwies sich als falsch; die Schwelle war leer; keine Statuen mit geschmolzenen Köpfen.
    Eine sanfte Gleichgültigkeit umfing mich. Die vergangenen Geschehnisse hätten mich quälen müssen, doch die Erinnerung verschonte mich. Nichts davon existierte. Nicht Jade und Jakob, nicht Stanhope, auch nicht das Massaker im Wald. Alles, was zählte, war dieser Augenblick. Der flatternde Schatten, der immer weiter davontänzelte.
    Dann hörte ich nichts mehr.
    Vielleicht war der Andere, das Andere, stehen geblieben und verstummt. Vielleicht war auch die Entfernung zu groß.
    Ich trat hinaus auf den Flur, nur mit meinem weißen Nachthemd bekleidet. Hinter mir zog ich die Tür zu; es knackte sanft, als sie ins Schloss fiel. Das Geräusch schien mir laut und verräterisch. Dann schlich ich den Flur hinunter. Der eiskalte Stein schien unter meinen nackten Sohlen zu brennen, trieb mich schmerzhaft vorwärts, Schritt um Schritt um Schritt.
    Angstvoll blickte ich hinter jedes Standbild, hinter jede Kommode, reichte gar manchmal mit der Hand in einen besonders tiefen Schatten, um zu ertasten, ob sich das seltsame Flatterwesen dort versteckte. Wahnwitzig war mein Vorgehen, doch auch daran dachte ich nicht in jenen Minuten. Ich sagte es schon, mir war, als träumte ich, obgleich ich doch mit absoluter Sicherheit wusste, dass es ganz und gar kein Traum war. Ich erlebte die Wirklichkeit und empfand sie doch ebenso verschwommen wie ein beliebiges Gespinst meiner Nächte. Und nie, niemals ist der Mensch tapferer als in seinen Träumen.
    Mein Knie stieß gegen eine hölzerne Truhe mit Eisenbeschlägen. Ich stolperte, fing mich aber wieder. Könnte ich bemerkt worden sein? Ich nahm mir vor, noch sorgsamer zu sein.
    Irgendwo in weiter Ferne ertönte das Kreischen des Scherenschleifers, sehr leise, aber noch vernehmbar. Vielleicht hatte es sich längst in meinem Schädel verfangen, ein surrendes, wimmerndes Insekt, das nach einem Ausweg suchte und mich dabei um den Verstand brachte.
    Da!
    Ja, da war es wieder. Das Flattern, das Flüstern, die huschenden Schritte. Und weiter vor mir, in der Einmündung einer Halle, war auch ein Umriss, aber er verschwand so schnell um die Ecke, dass ich nichts Genaues erkennen konnte. Nur dass er groß war, groß und seltsam unförmig. Gar nicht wie ein Mensch, eher wie – aber, nein, Geduld, noch ein wenig Geduld!
    Panik ließ meinen Atem stocken, und trotzdem schlich ich weiter, wie ein Räuber, der sich der Beute nähert.
    Aber wer war der Räuber und wer die Beute?
    Ich erreichte die Halle. Durch drei hohe Fenster schien der Mond in schrägen weißen Bahnen herein. Zum ersten Mal seit meinem Erwachen unterlagen die Schatten dem Licht. Alles schien wie vereist, von kaltem Glanz umrahmt.
    Der dunkle Schemen entschwand durch die gegenüberliegende Doppeltür, ohne dass ich einen klaren Blick auf ihn erhaschen konnte. Mit ihm verschwand auch das Wispern. Ob er wusste, dass ich ihm folgte? Oder war er immer noch ahnungslos?
    Ich eilte durch den Saal und fühlte mich dabei entsetzlich schutzlos. Wenn der Schemen sich umschaute, musste er mich entdecken, im Mondschein war mein Nachtgewand schwerlich zu übersehen.
    Neben der Tür blieb ich stehen, reckte meinen Kopf vor und blickte um die Ecke. Ein weiterer Flur, der nach wenigen Schritten an einer Treppe endete. Der Flüsterer war fort, er musste bereits die Stufen hinabgetänzelt sein.
    Ich folgte ihm wie ein Schlafwandler, mit klammem Herzen bis hinunter ins Erdgeschoss. Dort sah ich ihn erneut, und diesmal war er deutlicher zu erkennen. Er sprang und hüpfte und wedelte mit etwas in der Luft umher. Der schwarze Umriss hatte Arme und Beine wie ein Mensch, doch aus seinem Rücken wuchsen – ich musste zweimal hinsehen,

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