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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ehe ich begriff – die Schwingen eines Schmetterlings! Sie waren fast so hoch wie der ganze Körper, schlugen langsam vor und zurück.
    Der trancehafte Gleichmut fiel von mir ab, und mit einem Mal begriff ich. Ich erkannte die Absurdität meiner Lage und das Grauen des Augenblicks. Ich riss den Mund auf, um zu schreien, doch kein Laut entstieg meiner Kehle. Die Angst hatte mir die Stimme genommen. Trotzdem musste mich die entsetzliche Kreatur bemerkt haben. Mein hilfloses Schweigen verschaffte ihr Zeit zur Flucht. Sie fuhr herum, die Schwingen schlugen nicht länger, sie hingen wie lästige Auswüchse am Rücken der Gestalt. Ihre Beine hörten auf zu tänzeln und verfielen stattdessen in eiligen Lauf. Augenblicke später war das Wesen fort.
    Ich war allein, stand da in meinem weißen Hemd wie ein verlorener Geist, ganz entkräftet und verstört. Erst nach endlosen Augenblicken gelang es mir, mich wieder in die Gewalt zu bekommen. Ich rannte los, die Treppe hinauf und durch Gänge und Säle, bis in mein Zimmer und ins vertraute Reich des Scherenschleifers. Dort tat ich, was man bei bösen Träumen zu tun pflegt: Ich verkroch mich unter der Decke, und genau so blieb ich liegen, bis nach einer Ewigkeit endlich der Morgen graute.
     
    * * *
     
    Es war eigenartig, dass niemand kam, mich zu wecken. Nach allem, was vorgefallen war, hatte ich erwartet, dass Jakob an meiner Bettstatt ausharren würde, so wie ich es an der seinen getan hätte. Doch weder er noch sonst jemand ließ sich blicken.
    Nachdem meine Besinnung zurückgekehrt war, ich aber schwerlich die Ruhe finden konnte, um erneut zu entschlummern, hatte ich über vielerlei nachgedacht. Vor allem über Jade. Wo war sie jetzt? Sie war sicher nicht tot, durfte nicht tot sein! Ihr Schicksal war es, über das ich mir als Erstes Klarheit verschaffen musste.
    Meine Bewusstlosigkeit, gleich nach den Vorfällen im Wald, muss tiefer gewesen sein, als ich zunächst annahm. Man hatte mich sorgfältig gewaschen, ohne dass ich etwas davon wahrgenommen hatte. Meine Schrammen und kleinen Abschürfungen waren gereinigt, keine schien sich zu entzünden. So streifte ich denn eine frische Hose, ein Hemd und einen sauberen Gehrock über und verließ das Zimmer.
    Ich pochte an die Tür von Jakobs Kammer, bekam aber keine Antwort. Als ich vorsichtig öffnete und hineinblickte, sah ich, dass sein Bett unberührt war. Sein Gepäck lag unverändert an Ort und Stelle, also war er zumindest nicht abgereist.
    Einen Moment lang gedachte ich, nach einem Diener zu läuten und mich bei ihm nach dem Verbleib meines Bruders und dem Aufenthalt der Prinzessin zu erkundigen. Dann aber erschien es mir besser, den schnellsten Weg zur Aufklärung der Dinge zu gehen und bei Dalberg selbst vorzusprechen. Nach allem, was geschehen war, würde mich der Minister nicht abweisen können.
    Ich eilte also quer durchs Schloss bis in Dalbergs Vorzimmer. Sein Sekretär empfing mich mit qualligem Lächeln und heuchelte Freude über meine Genesung. Ich tat all sein Gerede mit barscher Handbewegung ab und fragte nach dem Minister.
    »Ich bedaure vielmals«, entgegnete er mit klebriger Höflichkeit, »aber Herzog von Dalberg befindet sich derzeit nicht in seinem Bureau.«
    Ich zeigte wenig Sinn für seine Floskeln. »Wo also ist er?«
    Der Sekretär rümpfte die Nase. »Ich bin sicher, er möchte im Augenblick nicht gestört werden, aber – «
    »Aber was?«, fragte ich lauernd.
    »Aber bestimmt macht er in Ihrem Falle eine Ausnahme«, keuchte er.
    »Also?«
    Er räusperte sich. »Sie finden den Herrn Minister im Schmetterlingssaal.«
    Mir stockte der Atem. »Im …?«
    »Schmetterlingssaal«, wiederholte der Sekretär in einem Tonfall, als spräche er zu einem kleinen Kind.
    Ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich irgendwo aufstützen. »Sie meinen das Haus des Doktors?«
    Er sah mich verwundert an, dann seufzte er betont. »Herr Grimm! Wenn ich sage Schmetterlingssaal, dann meine ich eben jenen und nichts sonst. Ich nahm an, Sie seien ein Mann der Sprache und des Ausdrucks, und so – «
    »Wo ist dieser Saal?«
    Er erklärte mir weitschweifig den Weg dahin und blickte mir missmutig nach, als ich ihn stehen ließ und mich grußlos davonmachte.
    Auf den Gängen begegneten mir die üblichen Hofbeamten und Dienstboten. Es schien, als hätte niemand erfahren, was sich in der Abteiruine abgespielt hatte. Wahrscheinlich hatte Dalberg allen Beteiligten strengste Geheimhaltung auferlegt. Hier im Schloss nahm das Leben

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