Die Winterprinzessin
seinen gewohnten, behäbigen Gang.
Der Saal, von dem der Sekretär gesprochen hatte, lag im Erdgeschoss des Ostflügels. Ich hatte keinerlei Vorstellung, was mich erwartete, als ich an der hohen, zweiflügeligen Pforte klopfte.
»Herein!«, erklang Dalbergs gedämpfte Stimme. »Aber Vorsicht, bitte!«
Zögernd öffnete ich die Tür einen Spaltbreit. Dämmriges Zwielicht herrschte dahinter. Ein kleines Quadrat, etwa zweimal zwei Schritte groß, war durch schwere braune Vorhänge vom Rest des Saales abgeteilt.
»Schließen Sie die Tür«, rief Dalberg.
Das tat ich und schob dann sachte einen der Vorhänge beiseite. Ich blickte in eine riesige Halle. Für einen Moment schien es mir, als hätte man die Fenster aufgelassen und das Schneetreiben sei nach innen gedrungen.
»Kommen Sie, kommen Sie herein. Sie sind es doch, Herr Grimm, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte ich knapp und trat vor. Sogleich umgab mich eine Wolke aus federleichtem Gewimmel. Überall flatterte und wirbelte es. Der ganze Saal war erfüllt von Schmetterlingen, Zehntausenden und mehr. Im Gegensatz zu jenen im Haus des Doktors waren sie keineswegs tot und unbeweglich; diese hier lebten und waren überaus fidel. Überall standen Pflanzen, ein halber Urwald, und es herrschte die Wärme eines Treibhauses, wenngleich die Luft nicht allzu feucht war. Durch die Mitte des Pflanzendickichts führte eine Schneise, und an ihrem Ende stand Dalberg. Ich konnte ihn nur vage erkennen, denn zwischen uns schwebten ganze Schwärme bunter Falter.
»Geben Sie Acht, dass Sie keinen zertreten«, bat er und kam langsam auf mich zu, setzte dabei sehr bedächtig einen Fuß vor den anderen.
Ich hatte mein Erstaunen noch immer nicht überwunden, ich dachte zugleich an Hadrians Obsession und an die Erscheinung der vergangenen Nacht, und alles erschien mir nur umso irrealer.
»Sie wirken so munter«, sagte Dalberg, während er näher kam. Er meinte die Schmetterlinge, nicht mich. »Sie sehen aus, als spielten sie miteinander, nicht wahr? Wie eine Schar ausgelassener, vergnügter Kinder.«
Freilich hatte ich wenig Sinn für derlei Beobachtungen. Was für merkwürdige Verbindungen gab es in diesem Schloss? Welche Bande bestanden zwischen Dalberg und dem verrückten Doktor Hadrian? Und welche Rolle spielte das seltsame Schmetterlingswesen der vergangenen Nacht?
Mittlerweile war ich überzeugt, wohl erhellt vom Licht des neuen Morgens, dass es sich bei der Kreatur um nichts anderes als einen gewöhnlichen Menschen mit einem Paar künstlicher Schwingen auf dem Rücken gehandelt hatte. Doch das Rätsel, das die unheimliche Erscheinung umgab, blieb von dieser Erkenntnis unberührt. Wer kam des Nachts auf die Idee, derart ausstaffiert durchs Schloss zu geistern? Bislang war Hadrian der einzige und auch naheliegendste Verdächtige gewesen. Nun aber eröffnete sich plötzlich eine neue und, wie mir schien, höchst beunruhigende Perspektive der Dinge – Dalberg hatte mich jetzt fast erreicht. »So possierlich diese zarten Tierchen auch erscheinen in all ihrer Zerbrechlichkeit und Verspieltheit, so flößten sie den Menschen doch früher große Furcht ein. Wussten Sie das?«
Ich schüttelte den Kopf, hatte tausend Fragen auf den Lippen und blieb doch stumm.
»Einst glaubte man, Schmetterlinge verkörpern das Böse«, erklärte der Minister. Ein buttergelber Falter ließ sich ungerührt auf seinem Kopf nieder. »Man hielt sie für Dämonen, die Pest und Fieber verbreiten. Je nach Färbung und Tageszeit deutete man ihr Erscheinen als Orakel, das von Gutem wie von Schlechtem künden konnte. Manch einer glaubte, in ihnen reise die Seele zum Himmel, andere mutmaßten gar, es handele sich um verzauberte Elfen und Wiesengeister.« Dalberg schmunzelte, streckte die Hand aus und sah zu, wie gleich drei der Falter auf seinen Fingern sitzen blieben. »Stellen Sie sich vor, ein Dämon im Körper eines Abraxas grossulariata! Welch absurder Gedanke. Es heißt sogar, Schmetterlinge seien die Überbringer von Albträumen, sie trügen auf ihren Schwingen all die Schrecken, die uns bei Nacht in unseren Betten heimsuchen. Was halten Sie davon, Herr Grimm?«
Ich fand sein Verhalten unerträglich. »Wie geht es der Prinzessin?«, fragte ich erregt. »Und wo ist mein Bruder?«
Er sah mich an, als hätte ich ihn aus einem wunderbaren Traum erweckt und achtlos in eine grausame Wirklichkeit gerissen. »Die Prinzessin? Oh, ja, sie behauptet, sie wäre eine, nicht wahr? Nun, es geht ihr den Umständen
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