Die Winterprinzessin
entsprechend. Das heißt, eigentlich erstaunlich gut. Sie kann schon wieder einige Schritte laufen.«
»Was?«, entfuhr es mir erstaunt.
Er nickte. »Unfassbar, ich weiß. Aber sie erholt sich prächtig. Die Klinge dieser Wilden ist von ihren Rippen abgeglitten und hat lediglich ihr Fleisch durchstoßen. Schmerzhaft, gewiss, aber keinesfalls fatal. Aber sagen Sie, wie ist es überhaupt dazu gekommen?«
Da er offenbar annahm, einer der Odiyan habe Jade die Wunde zugefügt, sah ich keine Veranlassung, ihm diese Überzeugung zu nehmen. Im Gegenteil, sie war mir höchst genehm. So erfand ich auf die Schnelle eine recht abstruse Geschichte von der armen, unschuldigen Prinzessin, die es zu Studienzwecken nach Europa geführt habe, nur um hier von ihren barbarischen Landsleuten entführt und gefoltert zu werden. Der Zufall habe gefügt, dass auch Stanhope und ich in die Gewalt dieser Unmenschen fielen. Als wir einen Ausbrach wagten, seien wir von den Odiyan aufgehalten, Jade gar niedergestochen worden.
Ich gebe zu, es war kein allzu überzeugendes Garn, und ich hatte das ungute Gefühl, dass Dalberg keinem einzigen meiner Worte rechten Glauben schenkte. Trotzdem widersprach er nicht.
Eine einzige Frage schien ihn zu beschäftigen, und im Nachhinein erscheint es mir eigenartig, dass er so lange gewartet hatte, sie zu stellen: »Wissen Sie, was aus Stanhope geworden ist? Ist er entkommen? Wir haben seine Leiche nirgends finden können.«
»Gütiger Himmel!«, rief ich aus. »Sie wissen es noch gar nicht!«
»Was weiß ich nicht?«, fragte er alarmiert.
»Stanhope – er hat Sie verraten! Er war es, der den Kutscher ermordete. Sicher weiß er jetzt, wo Sie das Kind versteckt halten!«
»Der Lord ein Verräter? Sie scherzen, Herr Grimm.«
»Ich habe es selbst gesehen.« Das war eine Lüge, aber wie sonst hätte ich ihn überzeugen können, ohne Jades Rolle in der ganzen Angelegenheit zu offenbaren?
Seine Augen verengten sich. Misstrauen sprach aus seinem Blick. »Erzählen Sie.«
So berichtete ich ihm stockend, dass man uns zusammen mit dem Kutscher eingesperrt habe und dass es Stanhope trotz allem gelungen sei, seine Fesseln zu lösen. Dann habe er dem braven Gerard vor meinen Augen das Gesicht vom Schädel gepellt, um zu erfahren, wo sich das Versteck des Erbprinzen befände.
Dalberg hatte sich offenbar nach dem Kampf um die Abtei vom Zustand des Armen überzeugt, denn er nickte widerwillig, erfüllt von bitterem Wissen, als ich auf die Leiden des Kutschers zu sprechen kam. Ich führte die unappetitliche Szene mit einer weiteren, plausiblen Erfindung zum Höhepunkt: Der Kutscher habe Stanhope schließlich etwas zugeflüstert, woraufhin der Lord ihn von seiner Qual erlöste. Ich selbst hätte die letzten Worte des Sterbenden nicht verstehen können, doch gebe es keinen Zweifel, dass es sich dabei um die Lage des Versteckes gehandelt habe.
Zu meiner Erleichterung stimmte Dalberg zu. Ich beendete daraufhin meinen Bericht mit dem Schwindel, einige Odiyan seien im letzten Moment in unserem Gefängnis aufgetaucht, ehe Stanhope sich Jade und mir widmen konnte. Daraufhin sei der Lord entflohen.
Ich hatte die letzten Worte kaum gesprochen, da geriet der Minister völlig außer sich, stürmte, ohne auf die Falter am Boden zu achten, aus dem Saal und ließ mich allein zurück. Allein mit Tausenden von Schmetterlingen.
Insgeheim atmete ich auf und beglückwünschte mich zu meiner Eulenspiegelei. Es war mir gelungen, den Minister vor Stanhope zu warnen, ohne Jade und mich selbst ans Messer zu liefern. Dann aber überkam mich ein furchtbarer Gedanke. Was, wenn Stanhope gefangen wurde und dem Minister die Wahrheit erzählte? Wem würde Dalberg dann Glauben schenken? Dem Verräter, der einst sein Freund gewesen, oder dem Verräter, der als Fremder ins Schloss gekommen war? Denn darauf lief es wohl oder übel hinaus. Stanhope oder ich.
* * *
Ein Diener verriet mir, wo ich Jades Krankenzimmer finden konnte, und so kam es endlich zum lang ersehnten Wiedersehen – auch mit Jakob, denn er saß Händchen haltend an ihrem Bett.
Als ich die Kammer nach kurzem Klopfen betrat, sprang er auf und stürzte mir entgegen, fiel mir um den Hals und drückte mich warmherzig an sich.
»Du bist schon wach?«, fragte er erstaunt.
Ich zog es vor, darauf keine Antwort zu geben, und deutete stattdessen auf Jade. Sie schien friedlich zu schlafen. Die schwarze Haarpracht flutete wirr über ihr Kissen. Sie war schön wie eh und je, allein
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