Die Winterprinzessin
stumm. Wärme und Zuversicht, die mir das prächtige Wetter eingegeben hatte, blieben an der Schwelle zurück.
Die Brokatvorhänge in der Eingangshalle waren alle geöffnet. Die Wände mit den toten Schmetterlingen, gepfählt auf silbernen Nadelspitzen, schienen auf mich einzudrücken, als beugten sie sich unter der Last der winzigen Leichen nach vorne. Manche Muster auf den starren Flügeln waren wie Augenpaare, deren Blicke jedem unserer Schritte folgten.
Am oberen Ende der Treppe, gerade über der höchsten Stufe, baumelte eine Schlinge von der Decke. Sie war sorgfältig aus jenem Seil geknüpft, das die Vorhänge öffnete und schloss. Das Seil drehte sich langsam, als hätte irgendetwas es in Bewegung gesetzt, ein Luftzug vielleicht, oder auch ein Mensch, der eben erst von seinem schaurigen Vorhaben abgelassen hatte.
»Herr Doktor!«, rief Jakob noch einmal, dann: »Nanette!« Schweigen. Falls sich jemand im Haus aufhielt, so lag ihm nichts an einer Begegnung mit uns.
»Was meinst du, ist er hier?«, flüsterte ich.
Jakob nickte. »Er versteckt sich.«
»Und das Mädchen?«
»Fort.«
»Wie kommst du darauf?«
»Sie ist aufgewacht und hat ihn verlassen, ganz bestimmt. Würde er sonst bei Nacht durchs Schloss geistern wie ein Schreckgespenst? Würde ein Dienstmädchen, noch dazu die Geliebte des Hausherrn, zulassen, dass die Hintertür unverschlossen bleibt? Bei allem, was sie durchgemacht hat?«
Jakob hatte die Lage ein weiteres Mal durchschaut, ehe ich auch nur die richtigen Fragen stellen konnte.
»Vielleicht hat er darüber endgültig den Verstand verloren«, mutmaßte ich.
»Wer weiß, wie viel dazu noch gefehlt hat, bevor er sein Kind den Odiyan ans Messer lieferte.«
Erst zögernd, dann immer kühner folgte ich Jakob die Treppe hinauf. Im ganzen Haus herrschte Totenstille. Nur das Seil und die Augen auf den Schmetterlingsflügeln schienen sich zu bewegen, nichts sonst.
Soweit die Enge der Treppe dies zuließ, machte ich einen Bogen um die Schlinge; der Gedanke, sie zu berühren, ließ mich vor Ekel erschauern. Sie drehte sich ganz langsam nach rechts, dann nach links. Nach rechts, nach links.
Der Flur im ersten Stock war in beiden Richtungen verlassen. Alle Türen waren geschlossen, und es gab kein Fenster, das die Finsternis hätte aufhellen können. Unter einigen Türen schimmerten fahle Streifen Tageslicht.
»Willst du ihn wirklich hier oben suchen?«, flüsterte ich Jakob zu. »Ich meine, genau genommen sind wir Einbrecher.«
»Und er? Ein Kindesmörder, ein Selbstmörder vor den Augen des Herrn. Nun sag mir, wer ist der schlimmere Verbrecher?«
»Aber darum geht es doch gar nicht. Vielleicht ist er gefährlich.«
Jakob schüttelte voller Überzeugung den Kopf. »Der schadet nur noch sich selbst.«
»Vielleicht fragt er sich, wie es wäre, zur Abwechslung mal einen Menschen aufzuspießen. Oder zwei.«
Wir passierten die ersten Zimmer auf beiden Seiten des Flurs. In den Türrahmen baumelten Schlingen, ebenso sorgfältig geknüpft wie jene über der Treppe.
»Allzeit bereit«, witzelte Jakob düster.
Mir dagegen war keineswegs nach Spaßen zu Mute. Erst recht nicht, als sich herausstellte, dass auch in allen anderen Türen des Stockwerks ähnliche Stricke hingen. Jeder endete in einer Schlinge.
»Fällt dir nichts auf?«, fragte Jakob leise.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, auf die Umgebung zu achten. Ich fürchtete den wahnsinnigen Doktor, und mit jedem Schritt in diesem Grabesdunkel nahmen meine Ängste zu. Daher verneinte ich Jakobs Frage.
Mein Bruder blieb vor einer der Türen stehen, ergriff die Schlinge und legte sie sich um den Hals.
Sofort packte ich ihn bei den Schultern. »Herrgott! Bist du verrückt geworden?«
Er aber grinste nur. »Mitnichten.«
»Zieh sofort dieses Ding vom Hals!«
»Keine Angst, ich gedenke nicht, es zu benutzen. Wie sollte ich auch?«
Ich starrte ihn einige Augenblicke lang entgeistert an, dann begriff ich. Die Schlingen hingen viel zu tief, das war es, was er beweisen wollte. Keines der Seile endete oberhalb meiner Brust. Jakob hatte die Schlinge anheben müssen, um sie überzustreifen.
»Wie, um alles in der Welt, will er sich daran aufhängen?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, wenn er sich fallen lässt …«
Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Dieses Fliegengewicht? Ich glaube kaum, dass ihm das das Genick bricht oder ihn erdrosselt. Sieh nur!«
Und damit ließ er sich in die Knie fallen und baumelte einen
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