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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sie erwartet?«, fragte Jakob behutsam. Drei Schritte trennten ihn noch vom Doktor.
    Hadrians Litanei brach ab, er verstummte einige Atemzüge lang, dann sagte er leise: »Den Winterling.«
    Irres Kichern flackerte über sein verschwitztes Gesicht. Er stand leicht schräg, als könne er sein linkes Bein nicht belasten, er musste sich beim Sprung übers Geländer verletzt haben.
    Jakob fasste in eine Tasche seines Gehrocks und zog das Papier hervor, das Hadrian uns bei unserem ersten Besuch gegeben hatte.
    »Ja, ja«, rief der Doktor aus, als Jakob ihm das Blatt entgegenhielt, »der Winterling, das ist er. Ich fange ihn, fange ihn jetzt endlich.« Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf den Umriss des weißen Schmetterlings, der auf das Papier gedruckt war. »Fliegt nur im Winter«, murmelte er, »nur im Winter fliegt der Winterling.« Erneutes Kichern und Spucken. Eiliger schlugen die Schwingen, zerfetzten weitere Ketten. Papierfalter regneten zu Boden.
    »Ei, ei!«, kreischte Hadrian. »So viele Gestalten gleich der seinen! Bald wird auch er selbst kommen. Und ich, ich fange ihn! Ich locke ihn an, versteht ihr? Locke ihn herbei, mit meinen Flügeln und allen seinen Brüdern.« Sein Arm beschrieb eine Drehung, die die Papierketten umfasste. »Hier unten wird er sich verfangen, in meinem Netz, oder oben in den Würgeschlingen. Dann ist er endlich, endlich mein.«
    »Jakob«, flüsterte ich, »lass uns hier verschwinden.«
    »Noch nicht«, gab mein Bruder über die Schulter zurück.
    »Was hast du vor?«
    Jakob machte noch einen Schritt in Hadrians Richtung. »Was ist der Quinternio?«, fragte er.
    »Er ist der Winterling, und der Winterling ist der Quinternio«, raunzte Hadrian erbost, als sei Jakobs Frage eine Beleidigung. »Alles ist eines jeden Symbol. Zeichen bedeuten alles und nichts – wenn wir wollen. Jeder schafft sich seine eigenen Geheimnisse. Jeder sieht Zusammenhänge, wo gar keine sind. Im gleichen Augenblick aber gibt es sie. Einmal gedacht, sind sie da. Sind nicht alle Zusammenhänge zuerst ein Gedanke?«
    »Komm schon, Jakob«, verlangte ich beharrlich. »Das ist wirres Zeug.«
    Hadrians Blick ging ruckartig in meine Richtung. »Wirr? Ja, ja doch. Wirr sind die Worte, die Gedanken, die Verbindungen. Ich bin der Winterling. Ich bin der Quinternio. Auch du bist es, junger Mann. Der Quinternio, der Winterling, die große Konspiration. Wir alle sind ihre Teile, mit jedem Gedanken, den wir ihr widmen.«
    Ich drehte mich um und ging. Jakob zögerte noch, dann folgte er mir.
    »Ihr seid er und ich und sie!«, hörte ich Hadrian am Ende des Ganges singen. »Er und ich und sie.«
    Draußen flirrte die Mittagssonne über den weiten Eisfeldern des Parks.
    »Vielleicht hat er Recht«, sagte Jakob leise, als wir durch den Schnee zum Schloss stapften. Ich sah ihn ungläubig an. »Vielleicht machen wir unsere Geheimnisse selbst, hier oben.« Er deutete auf seine Stirn. »Ganz gleich, wie sie heißen mögen – Quinternio, Winterling oder Amrita-Kumbha –, zu Rätseln werden sie erst, wenn sie sich einmal in unseren Köpfen festgesetzt haben.«
    Ich wollte etwas entgegnen, doch im selben Augenblick wurde ich einer Gestalt gewahr, die uns mit rudernden Armen über den Schnee entgegeneilte.
    »Meine Herren, meine Herren!« Es war ein Diener. »Minister Dalberg lässt Sie im ganzen Schloss suchen. Kommen Sie, kommen Sie schnell!«
    Dalberg lief aufgeregt in seinem Bureau auf und ab, die Hände hinterm Rücken verschränkt, den düsteren Blick zu Boden gerichtet. Drei Augenpaare folgten ihm bedächtig von links nach rechts und zurück, hin und wieder her.
    Jakob und ich saßen vor Dalbergs Schreibtisch, ein dritter Mann stand am Fenster. Er trug die Uniform der badischen Kavallerie. Dalberg hatte ihn uns fahrig als Rittmeister Stiller vorgestellt. Er mochte nicht ganz vierzig Jahre alt sein, hatte hohe, spitze Wangenknochen und ein kräftiges Kinn, das ihm den Anschein verlieh, als könne er Hufeisen zwischen den Zähnen zermalmen. In wundersamem Gegensatz dazu stand ein Muttermal auf seiner Stirn, daumennagelgroß, das die perfekte Form eines Herzens besaß. Ich vermochte mir vorzustellen, welchen Spott dieser Haudegen dafür unter seinesgleichen zu erdulden hatte – obgleich er nicht aussah wie ein Mann, der sich auch nur das Geringste gefallen ließ, das man mit den Fäusten oder blankem Stahl aus der Welt schaffen konnte. Stiller war ungewöhnlich groß, sein Gesicht von zahllosen Schmissen verunziert. Ich hatte

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