Die Winterprinzessin
dass sich meine Anwesenheit in Karlsruhe nach Stanhopes Flucht wohl erübrigt hat«, sagte ich seufzend.
»Endlich nimmst du Vernunft an!«, rief Jakob.
Jade ergriff meine Hand. Kurz war ich versucht, sie zurückzuziehen, doch wieder übermannte mich tiefe Zuneigung. Mein Widerstand schmolz dahin, und meine Finger lagen weiterhin in den ihren.
»Heißt das, Sie verzichten auf den Posten?« Ihre Stimme war hoffnungsvoll.
»Wo kein Kind, da kein Posten«, entgegnete ich und gab mir Mühe, kühl zu klingen.
»Du bist also überzeugt, dass Stanhope weiß, wo das Kind ist?«, fragte Jakob grübelnd.
»Zweifellos. Nicht einmal Napoleons Leibkutscher ist immun gegen solche Qualen.«
»Dann hat Stanhope einen Vorsprung von zweieinhalb Tagen.«
»Er musste ohne Pferd fliehen«, gab ich zu bedenken.
Jade schüttelte den Kopf. »Einen wie ihn wird das kaum aufhalten. Sicher hat er das nächstbeste Tier erbeutet und sich damit auf den Weg gemacht.«
Jakob schnaubte verächtlich. »Und da Dalberg das Kind schwerlich weiter als einige Tagesreisen von hier versteckt haben wird, bedeutet das, dass Stanhope wahrscheinlich schon dort eingetroffen ist – «
»Und den Prinzen entführt hat«, führte ich seinen Gedanken zu Ende.
»Was aber wird er mit ihm tun?«, fragte Jakob.
Ich blickte Jade an. »Als Sie unsere Kutsche überfielen, da schien es mir, als würden Sie Stanhope kennen. Was wissen Sie über ihn und seine Ziele?«
Sie bewegte sich unruhig unter der Bettdecke. »Nicht viel«, erwiderte sie ausweichend.
Auch Jakob musterte sie nun eingehender. »Heraus damit«, verlangte er unhöflich.
Jades Druck auf meine Hand wurde fester. Vielleicht erhoffte sie Beistand. »Ich habe ihn nie zuvor getroffen, wenn Sie das meinen. Ich hörte nur, dass mit dem Lord nicht zu spaßen sei. Ein großartiger Kämpfer, ein überaus kluger Kopf, der seine Bestrebungen mit allen Mitteln durchsetzt.«
Ich blieb misstrauisch. »Sie wollen uns doch hoffentlich nicht weismachen, die Agenten Ihres Vaters hätten solche Details wie den Freund eines Ministers in ihren Berichten erwähnt!«
»Nein, natürlich nicht. Aber vergessen Sie nicht, dass weite Teile meiner Heimat der Kolonialherrschaft Englands unterstehen.«
»Stanhopes Name ist bis nach Indien gedrungen?«
Sie nickte. »Man kennt ihn dort, ja. Stanhope war ein enger Vertrauter des ehemaligen Premiers William Pitt, der ihn mit allerlei Missionen im Dienste der englischen Krone betraute.«
»Pitt muss vor sechs oder sieben Jahren gestorben sein«, erinnerte sich Jakob, »Und Hadrian sagte, Stanhope arbeite nicht mehr im Auftrage Englands. Vielleicht ging sein Dienst für die Krone mit dem Tod seines Freundes zu Ende.«
»Und seither hat er sich anderen Herren verschrieben.« Ich spann die Gedankengänge meines Bruders fort.
»Die Frage ist: Welchen Herren?« Jakobs Blick richtete sich ebenso wie meiner auf die Prinzessin.
Sie seufzte tief. »Sie geben keine Ruhe, was? Sie wollen unbedingt alles wissen?«
»Verdientermaßen, wie ich finde«, sagte ich und dachte nicht mehr daran, meine Hand aus der ihren zu lösen. Zu süß war die Berührung ihrer Haut, zu heiß das Feuer, das aus ihren Fingerspitzen floss. Jakob schien es wohl zu bemerken, behielt sich aber wacker im Griff.
»Man munkelt, Stanhope habe sich einer fremden Macht verschrieben«, erklärte Jade. »Nicht einem anderen Land, keiner fremden Regierung. Aber kein Engländer in Indien scheint genau zu wissen, um was es sich dabei handelt; vielleicht sprechen sie auch nur nicht darüber. Bedenken Sie, mein Wissen beschränkt sich auf das, was die Kolonialherren in meiner Heimat reden, in ihren privaten Speisesälen und Badehäusern, an Orten also, wo ihre indischen Diener jedem Wort mit gespitzten Ohren lauschen. Was in geheimen Unterredungen und in den inneren Zirkeln der Regierung gesprochen wird, weiß auch ich nicht. Sicher ist nur, Stanhope ist kein Agent Englands mehr, und er hat sich neue Dienstherren gesucht, die seine Abneigung gegen Napoleon teilen.«
Ich beugte mich vor. »Erinnern Sie sich, dass ich Sie fragte, ob Sie je vom Quinternio der Großen Fragen gehört haben? Sie haben mit Nein geantwortet.«
»Das war die Wahrheit. Offenbar wissen Sie mehr als ich.«
Jakob schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.« Und dann erzählte er ihr von den wundersamen Bemerkungen des irren Doktor Hadrian, von seinem Gerede über den Quinternio und was sich dahinter verbergen könne oder auch nicht. »In einem
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