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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Moment lang frei mit dem Hals in der Schlaufe. Sein Gesicht lief dunkelrot an.
    »Zapperlot!«, schrie ich aufgebracht und riss ihn in die Höhe. »Du bist wirklich wahnsinnig!«
    Er schluckte, sichtlich erstaunt, dass sein Gewicht sehr wohl ausreichte. Dann zerrte er sich die Schlinge über den Kopf und rieb sich den Hals. Schnell hatte er sich wieder gefasst. Mit einer Handbewegung unterbrach er den Schwall von Flüchen und wüsten Verwünschungen, den ich über ihn ergoss.
    »Mag sein, dass die Schlinge für mich reichen würde, aber keinesfalls für ein Klappergestell wie Hadrian. Also stellt sich die Frage, was er tatsächlich mit den Seilen bezweckt.«
    »Vielleicht hofft er, dass Einbrecher sich daran erhängen.«
    »Ach, Wilhelm …« Er hatte kaum ausgesprochen, da schlug er sich plötzlich gegen die Stirn. »Aber natürlich, du hast Recht! Wilhelm, alter Knabe, du bist großartig!«
    Ich neigte verwundert den Kopf. »Wie bitte?«
    »Vielleicht braucht es ja einen Narren, um den anderen zu durchschauen … Nichts für ungut, kleiner Bruder. Aber ich glaube, du bist auf der richtigen Fährte. Diese Schlingen, die Hadrian überall ausgehängt hat – sie sind nichts anderes als Fallen!«
    »Fallen«, wiederholte ich betont. »Ja, ganz sicher, Jakob. Komm, lass uns zurück ins Schloss gehen.«
    Er dachte gar nicht daran. »Wir bleiben. Irgendwo muss der Doktor – «
    Das Knarren einer aufgerissenen Tür unterbrach ihn. Sonnenlicht zerschnitt die Dunkelheit, blendete mich. Instinktiv sprang ich zwei Schritte zurück, erwartete mit dem Rücken zur Wand einen Angriff.
    Doch die befürchtete Attacke blieb aus. Stattdessen huschte ein Schatten an uns vorüber, zweifellos Hadrian, und schwang sich übers Geländer neben der Treppe. Mit einem dumpfen Krachen kam er im Erdgeschoss auf, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen. Dann schleifende Schritte, die sich entfernten.
    Jakob rannte los, ich hinterher. Ein Blick übers Geländer. Die Eingangshalle war leer. Wir stürmten die Treppe hinunter, mit jedem Schritt zwei, drei, vier Stufen auf einmal. Durch die Halle – Augen auf Flügeln, die uns folgen – und den Gang zur Rückseite hinunter. Eine Tür fiel vor uns ins Schloss. Ich prallte dagegen, sprang zurück, holte erneut Schwung – Flattern! Schwingen flattern auf der anderen Seite – und brach durch die Tür.
    Dahinter stand Hadrian und starrte uns entgegen. Mit Gurten hatte er eine bizarre Apparatur an seinem Rücken befestigt: zwei riesige Schmetterlingsflügel aus bunt bemalter Pappe, die er mit den Ellbogen auf – und zuschlagen ließ.
    Das also war er, mein Nachtmahr.
    Der wirkliche Albtraum aber war das furchtbare Grinsen auf Hadrians Zügen. Hätte es noch eines weiteren Beweises bedurft, mich von seinem Irrsinn zu überzeugen, diese Grimasse hätte mir jeden Zweifel genommen. Gefletschte Zähne wie ein Wolf, aufgerissene Augen, ein Speichelfaden am Kinn, dazu entsetzliche Laute, halb Spucken, halb Kichern, das Zerrbild menschlichen Lachens.
    Er wich zurück, als wir durch die Tür traten – und verfing sich mit den Schwingen in etwas, das ich auf den ersten Blick für Girlanden hielt. Es waren weiße Papierstreifen, in langen Bahnen aneinander geklebt und kreuz und quer durch den Raum gespannt wie ein übergroßes Spinnennetz. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass die Streifen die Form von Schmetterlingen hatten, die an den Flügeln miteinander verbunden waren. Hadrian musste das Papier vielfach gefaltet und dann die Form eines Falters hineingeschnitten haben. Als Kinder hatten wir dergleichen oft gebastelt, als Fensterschmuck für die Mutter. Die Papierketten aber, die diesen Raum erfüllten, mussten in ihrer Gesamtheit über hundert Schritte messen!
    Hadrian starrte uns an, er schien uns für einen Moment zu erkennen, dann vernebelte Unverständnis seinen Blick. »Ihr seid nicht er«, faselte er, sah kurz zu Boden, schaute dann wieder auf und schrie: »Nicht er seid ihr, nicht er!«
    »Wen meint er?«, flüsterte ich Jakob zu.
    Jakob gab keine Antwort und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Wahnsinnigen zu. »Doktor Hadrian«, sprach er ihn sachte an, »erkennen Sie Uns nicht? Die Brüder Grimm, Jakob und Wilhelm.«
    Hadrian bewegte die Ellbogen schneller. Die Schwingen – sie überragten ihn um Haupteslänge – zerrissen einige der Papierketten. Es sah aus, als wolle er jeden Augenblick davonfliegen. »Nicht er«, wiederholte er immer wieder, »nicht er, nicht er.«
    »Wen haben

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