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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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gut, Mutter. Du hast es mir schon einhundertmal gesagt.«
    »Es ist doch immer dasselbe. Dein Vater und ich tun alles, was wir für richtig halten, wir kümmern uns und zahlen die Rechnungen, und du kritisierst nur herum. Madame Arrogant, die ihr schickes Leben in London führt und jedem sagt, was er zu tun und zu lassen hat. Ehrlich gesagt, mir steht’s bis hier.«
    »Mir auch!«, brüllte Diane und knallte den Hörer auf.
    Normalerweise rief sie nach einer Stunde zurück und entschuldigte sich. Diesmal jedoch nicht. Wenn ihr die Amerikaner |60| die Rolle anboten, und es sah ganz so aus, ginge sie nach Hollywood. Und wenn alles gut ging und sie wirklich Karriere machte, würde sie vielleicht sogar bleiben. Wenigstens für einige Zeit. Viele Monate hatte sie versucht, sich ein Herz zu fassen und etwas wegen Tommy zu unternehmen. Sie wusste noch nicht, was. Aber sie wusste, die Zeit war reif.

|61| FÜNF
    Die anderen ließen ihn in Ruhe, und das war auch besser so. Immer noch gab es willkürliche Akte der Gewalt, hinterrücks einen Faustschlag oder einen Stoß in die Rippen, ein gestelltes Bein, Kaugummi auf dem Stuhl, Zettel an seinem Rücken, auf dem geschrieben war:
Schlag mich
. Wenn er sich still verhielt, hatte Tommy gelernt, vorgab, dass ihm das alles nichts ausmachte, dunkle Ecken mied, in denen die Täter lauerten, war das Leben erträglich. Jemanden zu quälen, den es nicht kümmerte, machte nicht halb so viel Spaß.
    Für diese wichtige Lektion im Kampf ums Überleben musste Tommy dem unglücklichen Piggy Wadlow danken. Piggy bot ein Spektakel einer viel befriedigenderen Art. Wenn jemand ihm seine Brille stahl, ihn unter der Dusche zwickte oder Wasserbomben auf ihn warf, wenn er auf dem Klo saß, erhob er sich wie ein fleischgewordener Tornado und rannte brüllend und mit heruntergelassenen Hosen und Unterhosen, die um seine dicken, rosa Schenkel schlackerten, hinter dem Übeltäter her, ruderte mit den Armen und drohte lauthals mit Rache. Manchmal gelang es ihm sogar, und das machte diese endlosen Variationen der Verfolgungsjagden umso reizvoller.
    Tommy, der inzwischen im zweiten Semester in Ashlawn war, traf gewisse Vorkehrungen zu seinem Schutz. Zum Beispiel inspizierte er stets sein Bett, bevor er sich hinlegte, und zog niemals einen Schuh, Stiefel oder Pantoffel an, ohne sich vorher zu vergewissern, dass sich darin nichts verbarg. Auf diese Weise hatten seine Zehen nicht in verfaultem Obst gesteckt, in getrockneter Hundescheiße oder, das kam weniger selten vor, hatten |62| eine tote Maus berührt. Beim Essen beobachtete er genau, wie sein Teller von einem Jungen zum nächsten den Tisch entlanggereicht wurde. Es konnte ja sein, dass jemand ins Essen spuckte oder Salz oder etwas Schlimmeres darauf streute. Er bewachte alles, was ihm gehörte, mit Argusaugen und wusste auf den ersten Blick, wenn etwas fehlte oder jemand sich an seinen Sachen zu schaffen gemacht hatte. Außerdem vergaß er nie, seine Holzkiste abzuschließen. Sein Spitzname war mit Terpentin entfernt worden. Es war nur noch ein verschmierter Fleck zu sehen.
     
    Dass seine Bettnässerei nachgelassen hatte und die Klötze schon lange entfernt worden waren, änderte nichts. Der Spitzname und sein Ruf klebten an ihm. Seine Hauptfolterer waren Critchley und Judd, ihr neuer Lehrling Pettifer kam gleich an dritter Stelle. Wenigstens wusste Tommy, was er von ihnen zu erwarten hatte, und wappnete sich. Viel schmerzvoller waren die vielen kleinen Beleidigungen und Verletzungen von jenen, die eigentlich keine Fieslinge, ja sogar meistens ziemlich anständig waren, wenn man mit ihnen alleine war, die sich aber in der Öffentlichkeit verpflichtet fühlten, grausam zu sein.
    Instinktiv und aus Erfahrung wusste Tommy, Schutz und Gerechtigkeit bei den Lehrern zu suchen, sogar bei dem sympathischen Ducky Lawrence, war kontraproduktiv. Die Jungen, die man verpfiff, übten zwangsläufig Rache, für gewöhnlich, nachdem das Licht ausgeknipst worden war oder in der Frühstückspause auf den Toiletten. Täglich war er Zeuge davon bei Piggy geworden, der schreiend und schluchzend zu dem erstbesten Lehrer rannte. Die Wochen und Monate vergingen, und plötzlich reagierten die Lehrer anders. Echte Sorge und aufrichtiges Mitleid verwandelten sich in Überdruss und Verachtung. Erst gestern war Piggy, nachdem ihn jemand auf dem Sportplatz umgeschubst hatte, heulend zu Charlie Chin gelaufen. Der hatte |63| leise, aber scharf zu ihm gesagt, keine Lügenmärchen zu

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