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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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und sah immer irgendwie überrascht aus. Er spielte mit Dianes Vater Golf und war Mitglied in derselben Freimaurerloge. An jenem Morgen saß er auf ihrer Bettkante, sie sollte die Zunge herausstrecken, dann husten, während er mit dem kalten Stethoskop ihre Brust abhörte. Schließlich offenbarte ihm Diane nach zunehmend intimeren Fragen, die ihm unangenehmer zu sein schienen als ihr, dass ihre Periode zweimal ausgeblieben sei. Sie habe sich nichts weiter dabei gedacht. Dr. Henderson gab ein merkwürdig kehliges Geräusch von sich, als habe er eine Fischgräte verschluckt, und verließ das Zimmer, weil er mit ihrer Mutter sprechen wollte. Einen Augenblick später geriet die mehr oder weniger behütete Welt der Familie Bedford aus den Fugen.
    Mit Hilfe des roten Ledertaschenkalenders von Dr. Henderson konnte Diane den Sonntagnachmittag bestimmen, an dem ihre Moral sie auf empörende Weise im Stich gelassen hatte. Ihre Mutter teilte die skandalöse Nachricht in der Zwischenzeit laut jammernd telefonisch ihrem Vater mit. Dr. Henderson machte die interessante Beobachtung, dass es sich um denselben |104| Tag handelte, an dem Nordkorea den Süden des Landes überfallen hatte, ein Ereignis, das vielleicht den Dritten Weltkrieg auslösen könne. Zweifellos würde man Diane auch dafür die Schuld gegeben.
    Tests bestätigten die Diagnose des ehrwürdigen Doktors. Tage und Wochen der Hysterie folgten, so dass Dianes Erinnerung zehn Jahre danach in einem einzigen Nebel versank. Ihre Mutter, unkontrolliert heulend in der Küche, trank einen Gin Tonic nach dem anderen und beklagte lauthals die Schande; ihr Vater, Abend für Abend über das Telefon gebeugt, führte gedämpfte Gespräche und machte Arrangements, von denen Diane nichts erfuhr. Dann zog er sich in seine Werkstatt zurück, wo er die Porzellanscherben von jemandem zusammenfügte, dessen Glück zersprungen war.
    Diane hatte vor einiger Zeit begriffen, dass ihre Eltern jahrelang vergeblich versucht hatten, ein zweites Kind zu bekommen, und sie fragte sich, ob Eifersucht, dass der Tochter gelungen war, woran sie gescheitert waren, vielleicht der Grund für die wehleidige Wut ihrer Mutter war. Diese ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, was Diane zu tun hatte. Tante Vera habe einen Freund, sagte sie, der einen Mann in Birmingham kenne, der solche Dinge
erledige
. Diane brauchte eine Weile, bis sie begriff, was ihre Mutter meinte. Aber dann war sie empört. Sie selbst hatte nie den kleinsten Zweifel, dass das Kind auf die Welt kommen werde, und war selbst überrascht von ihrer Unnachgiebigkeit.
    Ihre Mutter bettelte und schikanierte Diane, weil sie wissen wollte, wer der Vater war. Allerdings beging sie einen taktischen Fehler. Sie sagte, das, was er einem fünfzehnjährigen Mädchen angetan habe, verstoße gegen das Gesetz. Männer gingen für so etwas ins Gefängnis. Diane stellte sich David hinter Gittern in Sträflingskleidung und mit Sträflingskugel am Bein vor. Das würde sie ihm nicht antun. Außerdem wollte sie nicht, dass er überhaupt davon erfuhr. Es war ihre Entscheidung gewesen, sie |105| hatte ihm erlaubt, das mit ihr zu tun, was er getan hatte, nun musste sie die Konsequenzen tragen. Hätte jemand es gewagt, anzudeuten, dass sie insgeheim dachte, Muttersein sei der Fluchtweg aus dem Gefängnis namens Elmhurst, dann hätte sie mit erbitterter Empörung reagiert. Diese Idee war jedoch nicht ganz abwegig.
    Da eine Abtreibung von der Liste der Möglichkeiten gestrichen wurde, richtete sich alle Aufmerksamkeit nun auf ein anderes A-Wort: Das Kind sollte zur Adoption freigegeben werden. Diane erklärte, auch das lasse sie nicht zu. Das war der Moment, in dem ihrer Mutter der Geduldsfaden riss. Tante Vera wurde gerufen, sie sollte dem Mädchen Vernunft beibringen.
    Tante Vera gehörte nicht zur Familie. Die Bedfords hatten keine Familie. Die Großeltern waren tot, und Dianes Vater war Einzelkind. Ihre Mutter hatte einen verlotterten Bruder, der Ted hieß. Er war vor dem Krieg nach Australien ausgewandert und abgetaucht. Nur alle vier oder fünf Jahre kam eine Postkarte von einem neuen und unaussprechbaren Ort als Beweis, dass er noch am Leben war. Vera Dutton war einfach nur die beste Freundin ihrer Mutter. Sie hatten einmal in derselben Firma gearbeitet und teilten ihre misanthropischen Ansichten über die Welt sowie ihre Vorliebe für Gin. Jeden Donnerstagnachmittag spielten sie mit zwei weiteren Freundinnen Whist und begaben sich freitags nach Birmingham. Dort

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