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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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wischte sich die Tränen ab, die, wie bei ihr, nicht aufhören wollten zu strömen.
    »Wer ist dann mein Vater?«
    Diane hatte diese Frage erwartet, und zum ersten Mal wusste sie, was sie sagen wollte. Immerhin war es die Wahrheit. Sie atmete tief durch und sprach ganz ruhig.
    »Er war in der Knabenschule, in der Nähe von meiner. Er hieß David. Seine Eltern lebten in Übersee. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich habe gehört, dass er verheiratet ist.«
    Tommys Gesicht verzerrte sich, er schrie auf und wandte sich von ihr ab. Sie hielt ihn noch immer an den Armen. Er riss sich los und rannte aus dem Zimmer.
    »Tommy! Bitte!«
    |98| Sie lief ihm hinterher in die Küche, aber er rannte die Treppe hinauf und schrie, sie solle ihn in Ruhe lassen. Diane hielt inne und legte die Hände vors Gesicht. Das Haus erzitterte, als Tommy seine Zimmertür zuschlug. Ihre Mutter schnitt, eine Zigarette zwischen den Lippen, Tomaten in Scheiben. Keine Spur von ihrem Vater. Wahrscheinlich war er in seine Werkstatt geflohen. Ihre Mutter sah sie nicht an, zog an ihrer Zigarette und legte sie in den Aschenbecher.
    »Und«, fragte sie, »bist du jetzt zufrieden?«

|99| ACHT
    Es war nur eine Mutprobe gewesen. Diese Version hatte sich Diane zumindest zurechtgelegt. Es barg eine gewisse Ironie, dass sie das jetzt, beinahe ein Jahrzehnt nach dem Schock über Tommys Empfängnis, reizvoll fand. Das Leben war alles in allem abscheulich düster und grausam. Wenn man ihm nicht ins Gesicht lachte, dann ging es einem an die Gurgel. Der Gedanke, dass ihr Sohn lediglich das Ergebnis einer Mutprobe war, erklärte noch rechtfertigte jedoch das, was geschehen war.
    David Willis gehörte zu einer Gruppe von Jungen von St. Edwards. Immer, wenn Diane das Gefühl hatte, sie verlöre vor Langeweile den Verstand, war sie an jenen langen Sommerabenden mit ihrer besten Freundin Katie Bingham und ein paar anderen Mädels davongeschlichen und hatte David getroffen. Die Sportplätze der beiden Internate lagen nebeneinander. Ein schmaler, von Ahornbäumen gesäumter Weg führte hinter den Schuppen, in dem die Gärtner ihre Rasenmäher aufbewahrten. Die Jungen warteten immer schon mit Zigaretten in ihren Jacketttaschen. Manchmal floss Alkohol, allerdings selten Hochprozentigeres als Apfelwein.
    Die meisten Jungen waren Angeber oder dumm oder beides. David Willis war anders. Er hielt sich zurück, war nicht direkt schüchtern oder reserviert, nur ein wenig losgelöst, als sei er nicht sicher, ob er wirklich mit von der Partie sein wollte. Manchmal ertappte Diane ihn dabei, wie er sie anstarrte. Eine Herausforderung hatte sie noch nie gescheut. Eines Abends lächelte sie zurück, und er errötete und setzte ein schiefes Grinsen auf.
    |100| Von da an war er bei diesen geheimen Nikotinrendezvous der Einzige, mit dem sie sich abgab. Sein Vater war bei der Royal Air Force und wurde alle zwei Jahre an einen anderen Ort versetzt. Die ganze Familie zog jedes Mal mit Sack und Pack mit. Mit gerade fünfzehn Jahren hatte David in einem halben Dutzend Ländern gelebt. Für Diane spielte er sofort in einer viel exotischeren Liga als die anderen Jungen. Im Moment befanden sich seine Mutter und sein Vater in Kenia. Die Geschichten, die David ihr über Safaris und Löwen, Elefanten und Krokodile erzählte, machten ihn zu einem scheinbar unerreichbaren Romanhelden.
    Die Sonntagnachmittage waren den Schülern der beiden Internate für Spaziergänge vorbehalten – natürlich nicht zusammen, denn der Umgang mit dem anderen Geschlecht war in beiden Institutionen ein übles Vergehen. In Elmhurst gab es für diese Ausflüge zu Fuß strenge Regeln: mindestens vier Mädchen pro Gruppe; Schuluniformen, einschließlich der obligatorischen Hüte (hässliche steife Strohhüte – die Aufständischen feuchteten die Krempen an und bogen sie nach unten, das verlieh ihnen ein verwegenes Cowgirl-Aussehen); nur auf festgelegten Wegen oder Pfaden gehen. Das Wichtigste aber war: Die farnbewachsenen Hügel, die sich sündhaft auf der anderen Seite erhoben, waren tabu.
    Für unverbesserliche Rebellinnen wie Diane und Katie hatte diese Anordnung genau die gegenteilige Wirkung. Die verbotene Natur reizte sie nur umso mehr. Und an einem schwülen Nachmittag Ende Juni – ihre Hüte und Strickjacken hatten sie abgelegt, ihre beiden Klassenkameradinnen waren sie losgeworden – schlenderten sie mit David und seinem Freund Henry Littlemore auf einem der von Farnen gesäumten Schlängelpfade. Henry Littlemore

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