Die wir am meisten lieben - Roman
gingen sie einkaufen und ließen sich Dauerwellen legen. Tante Vera war noch kleiner als Dianes Mutter, trug immer nur Hellblau und eine dicke Schicht orangefarbenes Make-up. Sie war kinderlos und mit einem Bankangestellten verheiratet. Er hieß Reggie und war beinahe ebenso unangenehm und eingebildet wie sie. Abgesehen von Doktor Henderson war Tante Vera die Einzige, die in das beschämende Geheimnis der Bedfords eingeweiht wurde.
»Deine Mutter macht sich solche Sorgen«, sagte sie.
Diane und Tante Vera saßen allein auf der kleinen weißen |106| Holzbank unter dem Kirschbaum im Vorgarten und tranken Tee aus chinesischen Porzellantassen, die nur zu besonderen Anlässen herausgeholt wurden. Dianes Mutter tat so, als hätte sie in der Küche zu tun.
»Sie will nur das Beste für dich.«
»Ich weiß.«
»Es wird ein schönes Zuhause bekommen …«
»
Es?
«
»Das Baby. Eine Familie, die sich wirklich ein Kind wünscht.«
»Ich wünsche es mir wirklich.«
»Vielleicht denkst du das jetzt, mein Schatz, aber du bist jung.«
»Und zu blöd, um zu wissen, was ich will.«
Tante Veras Gesichtsausdruck wurde hart.
»Du weißt genau, dass ich es so nicht gemeint habe.«
Sie blickte irritiert in die Ferne und zog an ihrer Zigarette. Diane sah, dass ihr Lidschatten dieselbe Farbe hatte wie ihr Kleid.
»Wird dich der Junge heiraten?«
Diane lachte. Das regte Tante Vera noch mehr auf.
»Natürlich nicht.«
»Es kümmert dich nicht, was die Leute sagen?«
»Nein, nicht sehr.«
»Es kümmert dich nicht, wenn sie dein Kind einen Bastard nennen?«
Diane tat dieser Frau nicht den Gefallen, zu zeigen, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, unbekümmert zu wirken.
»Die Leute können sagen, was sie wollen.«
Tante Vera seufzte und schnippte den Zigarettenstummel in die Hortensien.
»Nun, es ist dein Leben, Liebling. Wenn du es ruinieren willst, dann ist es deine Sache.«
|107| »Hattest du darum keine Kinder? Weil sie dein Leben ruiniert hätten?«
Es war das letzte längere Gespräch, das sie führten. Die Frage der Adoption blieb für mindestens weitere drei Monate unbeantwortet. Diane ging nicht mehr zurück nach Elmhurst. Die Schule wurde benachrichtigt, sie habe sich während des Sommers ein Lungenleiden zugezogen und brauche die Hilfe eines Spezialisten und einen ausgedehnten Aufenthalt in einem gesünderen Klima.
Ende Oktober, als die Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen war, reiste Diane in Begleitung ihrer Mutter mit Fähre und Nachtzug in eine kleine Stadt in den Schweizer Alpen. Alles war von einer Reihe diskreter Freimaurer arrangiert worden. Die letzten Monate ihrer Schwangerschaft war Diane zusammen mit zwei anderen jungen Engländerinnen, die sich in einer ähnlich prekären Lage befanden, an das Haus der rundlichen und rotwangigen Witwe Müller gebunden.
Ihre Mutter blieb so lange, bis sie sich vergewissert hatte, dass die medizinischen und erzieherischen Bedingungen zufriedenstellend und der Spielraum für Unfug begrenzt waren. Sie musste sich keine Sorgen machen. Hinter dem gutmütigen Lächeln der Frau Müller, die stets ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und streng geflochtene Zöpfe trug, verbarg sich eine unnachgiebige Aufseherin. Und das saubere Städtchen, das an einem See lag, war ebenso schön wie langweilig.
Ein düsterer Arzt des örtlichen Krankenhauses besuchte die Mädchen einmal in der Woche. Von dem pensionierten und arthritischen Lehrer Schneider erhielten sie Unterricht in Englisch, Französisch und Deutsch und von Frau Müller in den praktischeren Fächern wie Handarbeit und Etikette. Bald wusste Diane, wie man ein Zimmer, in dem sich eine gemischte Gesellschaft befand, verließ (auf die Tür zugehen, beim Öffnen der Tür kurz umdrehen, lächeln, hinaustreten) oder wie man in ein |108| Auto ein- und aus dem Auto wieder ausstieg, ohne unangemessen viel Bein zu zeigen (einsteigen: Knie zusammen, setzen, Beine nachziehen; aussteigen: Knie zusammen, beide Beine raus, dann anmutig aufstehen).
Ihre Mutter blieb zwei Wochen und wurde milder. Das Wetter war sonnig und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm, der See ein Spiegel für die Kiefern und Schneegipfel. Sie machten Nachmittagsspaziergänge am Ufer und labten sich in einem kleinen Fachwerkcafé an Apfelstrudel und heißer Schokolade mit einem Klecks Schlagsahne.
An einem dieser Nachmittage fragte ihre Mutter Diane, wie sie sich ihr Leben vorgestellt hatte, wäre sie
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