Die wir am meisten lieben - Roman
Mannes vor, wenn er ihn öffnete. Diane hatte ihn ja nie darüber informiert, dass sie schwanger war.
Auf einer seiner seltenen Reisen nach England hatte Tom sich einen Wagen gemietet, war nach Tunbridge Wells gefahren und hatte das Haus an einer spießigen Straße gefunden.
»Es war ein sonniger Sonntagmorgen. Die Leute mähten in ihren Gärten den Rasen. Ich fuhr langsam an dem Haus vorbei, und da stand ein Mann in einer kleinen Einfahrt und wusch sein Auto. Ein Volvo wie Ihrer, nur sauberer.«
Karen O’Keefe lachte ihr entzückendes Lachen.
»Wie sah er aus?«
»Groß, schlank, attraktiv. Ich habe ganz offensichtlich seine Gene.«
»Und dann?«
|221| »Ich fuhr vorbei und wendete, parkte unter ein paar Bäumen auf der anderen Straßenseite. Ich saß eine Weile da und beobachtete ihn. Dann kam ein kleines Mädchen aus dem Haus – sie war vielleicht fünf –, und er tat so, als wolle er sie mit dem Wasserschlauch nassspritzen. Das Mädchen kicherte und kreischte und forderte ihn auf, sie nasszumachen. Dann hob er sie hoch, setzte sie auf seine Schultern und wusch weiter seinen Wagen.«
»Ihre kleine Schwester.«
»Ja, nehme ich an. Meine Halbschwester.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich habe den Motor gestartet und bin weggefahren.«
»Und Sie haben sich nie mit ihm in Verbindung gesetzt?«
Tom lächelte und schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Was hätte ich denn sagen sollen.
Hi, ich bin Tom, der Sohn, von dem Sie nichts wussten?
Ihm das anzutun, diese Bombe platzen zu lassen, dazu brauchte ich einen triftigen Grund, nicht nur Neugier. Das war es eigentlich – pure Neugier. Es gab keine … Verbindung.«
Sie schwiegen.
»Und Ihre Mutter? Lebt Sie noch?«
»O nein. Sie ist vor langer Zeit gestorben.«
»Brüder und Schwestern?«
»Eine Schwester. Sie kam bei einem Autounfall ums Leben, als ich dreizehn Jahre alt war.«
»Das ist hart.«
»Ja, das ist es.«
Die Lüge war abgenutzt. Es war schon lange her, seit er sich sie erzählen gehört hatte, und plötzlich überkam ihn das Verlangen, zu gestehen, wie Diane wirklich gestorben war. Aber wie sollte er dieser Fremden sagen, was er noch nie jemandem zuvor verraten hatte? Nicht einmal seinem Therapeuten, nicht einmal Gina. Es wäre ein zu großer Verrat. Das war das Problem mit Lügen. |222| Wie die knorrigen Pinien, die an der Front Range wuchsen: Je älter sie wurden, desto solider wurden sie. Ein Rabe flog vor ihnen in einer warmen Bö, und das gab Tom Gelegenheit, die Unterhaltung zu beenden. Er stand auf.
»Ich bekomme Hunger. Und Sie?«
»Ich auch.«
Tom rief Makwi. Hechelnd trottete die Hündin zwischen den Bäumen hervor.
»Müssen wir nach einer Leiche suchen?«, fragte Karen.
»Hat Ihre Mutter eine neue Katze?«
»Nein.«
Sie sprachen wenig, bis sie das Haus erreichten. Tom schenkte Karen ein Glas Rotwein ein und sich eine Limonade. Danach widmete er sich den Steaks. Karen zündete auf der Veranda Kerzen an, kam wieder herein und setzte sich an den Küchentisch, um den Salat zuzubereiten.
Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, hatte er ihr die Bänder mit den Interviews gegeben, die er mit den alten Blackfeet über die Holy Family Mission geführt hatte. Karen sprühte nun vor Ideen, wie man sie für einen Film nutzen konnte, den sie beide, sie war überzeugt, machen würden. Tom lehnte sich an den Tresen und sah zu, wie sie den Salat zupfte und dabei redete. Er mochte, wie sie sprach. Die gedehnte Sprache des mittleren Westens, nonchalant und ernst.
Die Steaks schmeckten gut. Beim Essen sprach Karen über sich. Über ihre Collegezeit in Boulder, der UCLA-Filmschule, über ein paar Dokumentarfilme, die sie gedreht hatte, die eine gesellschaftskritische und umweltpolitische Thematik hatten und sowohl in ihrer Machart als auch vom Inhalt ziemlich radikal klangen. Ein Film über einen Wettbewerb in einer Kleinstadt in Wyoming, bei dem es darum ging, Kojoten zu töten, hatte vergangenes Jahr in Sundance einen Preis gewonnen. Einer der Jäger hatte Karen einen Brief geschrieben und gedroht, wenn sie |223| sich je wieder blicken ließe, erwarte sie derselbe Willkommensgruß wie die Kojoten. Momentan arbeitete sie an einem Film über Irakveteranen.
Tom trank einen Schluck Limonade.
»Ach, tatsächlich?«
»Ja. Er soll
Walking Wounded
heißen. Es geht um die allgemeine Annahme, dass es sich bei Kriegsopfern nur um die Verwundeten und Toten handelt. Das ist einerseits wahr, andererseits bleiben die
wahren
Opfer im
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