Die Witwen von Paradise Bay - Roman
verloren haben, oder es geht um etwas vollkommen anderes.
»Ich auch«, flüstere ich, überrascht, Tränen auf meinem Gesicht zu spüren. Ich habe noch nicht um Ches geweint, und selbst jetzt sind es bloß Tränen der Scham. Ich wünschte, er wäre unter anderen Umständen gestorben – durch Ertrinken, einen Unfall mit dem Schneemobil oder dem Auto, eine Krankheit. Wäre er doch an dem Abend gestorben, als er sich den Rücken gebrochen hat, wäre er doch mit dem Kopf aufgeschlagen! Prissy schlingt die Arme um mich, und ich weine etwas heftiger in ihr graues Sweatshirt. Es spielt keine Rolle mehr, dass ich sie seit Jahren nicht gesehen habe, sie mir keine eigene Lasagne gebracht hat oder mir am Vortag die Tür zu ihrer Trauer verwehrt wurde. Ich bin nur dankbar, weil sie da ist und nicht fragt, warum sich mein Mann umgebracht hat.
Ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nur, dass Ches doch keine Affäre hatte. Er ist nicht nach St. John’s gefahren, um sich mit einer anderen Frau zu treffen. Er ist nicht einmal bis St. John’s gekommen, sondern gleich am nahegelegenen Hafen vorbei zum Lagerschuppen hinter der Eisbahn gefahren, wo ich ihm damals gesagt habe, dass ich ein Kind erwarte. In dem Wissen, dass um diese Tageszeit niemand dort sein würde, hat Ches den Zamboni auf das Eis gefahren, seinen Geländewagen im Schuppen geparkt und alles so hergerichtet, dass er genug Kohlenmonoxid einatmen konnte, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Ich frage mich, ob er diesen Ort aus praktischen Gründen gewählt hat. Der Schuppen ist ein kleiner, geschlossener Raum und für ein solches Vorhaben geeignet. Aber vielleicht hat er ihn auch gewählt, weil ich ihm dort vor all den Jahren von meiner Schwangerschaft erzählt habe? Hat er auf sein Leben zurückgeblickt und festgestellt, dass es in diesem Moment schon zu Ende war? Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen und keine Erklärung.
Ches’ Beerdigung kommt einer außerkörperlichen Erfahrung nahe. Ich höre den Pastor, ich sehe den Sarg, ich weiß, dass ich auf der Beerdigung meines Mannes bin, und dennoch habe ich den Eindruck, als liefe all das im Fernsehen. Den Trauergästen scheint es ähnlich zu gehen. Um mich herum werden, wie Kommentare zu einem Fernsehspiel, verschiedene Meinungen und Theorien geäußert. Einige spekulieren, Ches sei möglicherweise schwul gewesen, was andere für eine ungeheuerliche Unterstellung halten, da Ches sehr oft abschätzige Bemerkungen über Schwule gemacht habe. Umso mehr Grund zu der Annahme, dass er selber einer war, sagen wieder andere.
Es heißt auch, Ches sei pädophil gewesen, als Kind sexuell missbraucht worden, habe angeblich Krebs im Endstadium gehabt, an Depressionen gelitten und für die Hells Angels mit Drogen gedealt.
Ich habe Gerede erwartet, aber nicht geahnt, welch wilde Blüten die Fantasie treiben würde. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass Ches’ Leben nicht annähernd so interessant war, wie es jetzt geschildert wird, und trotzdem weiß auch ich nicht, wieso er sich umgebracht hat.
Nach der Beerdigung begleiten mich Prissy und Georgia nach Hause. Sie bewegen sich auf eine mir im Moment unmögliche Weise effizient und planvoll durchs Haus, was dennoch guttut. Georgia hantiert in meiner Küche herum und sortiert das Essen, das mir die Nachbarn gebracht haben, nach der Speisenfolge – Sandwiches, Salate und Schinkenaufschnitt in den Kühlschrank, Karamell, Brownies, Brötchen und Reiskräcker in den Brotbehälter. Ich kann sie vom Sofa aus nicht sehen, höre nur das Knistern der Alufolie. Wahrscheinlich quillt mein Kühlschrank vor Essen über, und es wird längst verdorben sein, wenn ich wieder so etwas wie Hunger empfinde. Ich hätte sie beinahe gebeten, einiges für Ches aufzuheben.
Prissy hat den Staubsauger gefunden, kommt aber mit dem Schalter nicht zurecht. Ich schäme mich zu sehr, ihr zu sagen, dass sie den Knopf fünf Sekunden lang drücken, dann loslassen und wieder drücken muss, doch am Ende ist mir ihre Ratlosigkeit noch peinlicher, und so erkläre ich es ihr.
»Ches hat ihn repariert«, ergänze ich. »Er konnte alles reparieren. Er versteht echt viel von Technik. Ich glaube, er wusste genau, was er mit dem Wagen machen musste, damit er … du weißt schon.« In meiner Stimme schwingt Stolz mit. Kaum zu fassen, dass ich meinen Mann für das Wissen preise, wie man sich vergiftet. Prissy sieht mich mitleidig an. Dieser Blick ist mir zuwider, ich brauche kein Mitleid. Ich brauche allenfalls eine
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