Die Witwen von Paradise Bay - Roman
ungewöhnlich düster und genauso verstört drein wie ich. Quentin wirkt verschreckt und beäugt seine Großmutter nervös, als drohte sie jeden Augenblick tot umzufallen. Die Stimmung ist jäh umgeschlagen. Vor wenigen Augenblicken noch hatten wir alle gelacht, sogar ich, was unter den gegebenen Umständen erstaunlich ist.
Charlie hat sich in den letzten anderthalb Wochen als mein Stärkungsmittel erwiesen. Irgendwie schafft er es, zu fast allen Mahlzeiten zu erscheinen, obwohl er nicht mehr hier im Haus wohnt. Er flucht, trinkt zum Frühstück schon Bier und schildert seine Anekdoten so lebhaft, als wäre man dabei. Manchmal habe ich das Gefühl, Howie arbeitet und ich mache Urlaub und warte darauf, dass er mich abholt, sobald er freibekommt.
Heute hat Charlie die Séance geschildert, die Lottie und ich einst abgehalten haben, um die Seelen der irischen Prinzessin Sheila NaGeira und ihres verwegenen Piraten Peter Easton zu beschwören. Ich weiß, dass wir uns im Schutz der Dunkelheit auf den Friedhof von St. Augustine geschlichen hatten, aber Charlie erinnert sich noch an vieles, was ich längst vergessen habe, etwa dass wir uns die Nägel schwarz lackiert und uns als Wahrsagerinnen verkleidet hatten, mit den Paisleytüchern unserer Großmütter auf dem Kopf. Er meinte sich sogar an die genauen Worte unserer Geisterbeschwörung zu erinnern. Erst als er vorgeführt hat, was für Gesichter wir beide gemacht hätten, als eine Gruppe betrunkener Jungs hinter der Kirche auftauchte und Gespenster spielte, ist mir aufgegangen, dass Charlie überhaupt nicht dabei war.
Die Ankündigung meiner Mutter katapultiert uns alle in die Gegenwart zurück. Ich stelle meine Teetasse ab und lege mein Rosinenschnittchen vorsichtig wieder in die Plastikdose, neben einen Marmeladendonut und eine Kokoskugel. Ich dränge Charlie mit verzweifelten Blicken, etwas zu sagen, aber er ist damit beschäftigt, sich Marmelade und Puderzucker aus seinem Ziegenbärtchen zu wischen. Ich mustere einen Riss in der Vinyltischdecke. Wenn ich gar nichts sage, wird es uns meine Mutter vielleicht erklären und mir damit eine Gelegenheit für Fragen geben.
Ich will nicht, dass meine Mutter stirbt, vor allem jetzt nicht, wo schon alles andere in meinem Leben auseinanderfällt. In diesem Chaos brauche ich ihre Hilfe, doch das ist natürlich furchtbar egoistisch. Vor lauter Scham muss ich mich regelrecht zwingen, sie anzusehen, aus Angst, sie könnte meine Gedanken lesen.
Aber meine Mutter hat uns den Rücken zugewandt. Sie beugt sich über die Spüle und wäscht mit ihren geschwollenen arthritischen Händen das Geschirr in heißem Seifenwasser. Ich sollte aufstehen, sie drängen, sich zu setzen, sich auszuruhen, auf ihre Gesundheit zu achten, doch ich sehe nur hilflos zu, wie meine Mutter Hühnerknochen von einem Teller schabt. Sie spannt Frischhaltefolie über eine Schüssel mit restlichen Kartoffeln, um sie am nächsten Morgen in Schmalz zum Frühstück zu braten. Das hat sie während meiner Kindheit mindestens einmal wöchentlich getan, und die Banalität dieser Gesten ärgert mich so sehr, dass mein Mitgefühl der Wut weicht. Nur Mom kann diese Bombe platzen lassen und danach Alltag spielen. Man verkündet nicht seinen nahenden Tod und räumt dann den Tisch ab! Man weint oder setzt eine tapfere Miene auf, aber ganz sicher spült man nicht das Geschirr.
Nun hatte meine Mutter immer einen Hang zum Drama. Sie drängt sich ins Rampenlicht und tut dann so, als wäre ihr all das Interesse unangenehm. Ich glaube sogar zum Teil, dass sie Howies Tod nicht etwa vorgetäuscht hat, um mich zu schützen, sondern weil ihr das mehr Aufmerksamkeit garantiert als die Wahrheit, der Ehebruch. Sie ärgert sich auch, dass sie den Gedenkgottesdienst wegen Ches’ Selbstmord verschieben musste. »Warum hat dieser Hurensohn mit seinem Selbstmord so lang gewartet?«, war ihre Reaktion, und: »Ich weiß nicht, wieso auf einmal alle über Ches Crocker reden. Es gibt ja kein anderes Thema mehr.« Wahrscheinlich ist sie neidisch, weil man nicht mehr über uns spricht.
Natürlich sollte ich Mom fragen, was mit ihr nicht stimmt und warum sie glaubt, bald sterben zu müssen, was genau der Arzt gesagt hat und welche Behandlung es für ihre wie auch immer geartete Krankheit gibt, aber je länger das Schweigen dauert, umso wütender werde ich. Womöglich ist Mutters Krankheit nur eine Finte, damit ich in Sachen Howies Tod bei der Stange bleibe. Fremd sind meiner Mutter solche Methoden
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