Die Witwen von Paradise Bay - Roman
getötet hat, doch da ist noch eine andere Sehnsucht im Spiel. Wir wollen sehen, dass wir ihm etwas bedeutet haben, denn Ches hat bei seinem Selbstmord wohl nicht einen Augenblick daran gedacht, was das für seine Frau und sein Kind heißt. Und wir brauchen ein Zeichen, das uns sagt, dass wir keine Mitschuld tragen, dass kein Wissen und kein Handeln das hätten verhindern können. Aber wir gehen leer aus.
Kapitel 13
Prissy
Charlie behauptet, Quentin wäre an dem Abend, als er fortgelaufen ist, auf Alkohol und Drogen aus gewesen. Doch Beweise hat mein Bruder nicht – abgesehen von der Tatsache, dass Quentin im Teenageralter ist und momentan nur unter der Aufsicht seiner sehr abgelenkten Mutter steht. Für mich gilt daher: im Zweifel für den Angeklagten. Überhaupt finde ich Charlies Bemerkung ärgerlich, denn wer sagt, dass Quentin nicht ein Unfallopfer reanimiert oder einen entlaufenen Hund gerettet hat? Es ist mir ein Rätsel, weshalb Charlie immer gleich das Schlimmste annehmen muss, aber als ich ihm diese Frage stelle, lacht er mich aus. »Kein Wunder, dass Howie so lange unbemerkt herumvögeln konnte«, sagt er.
Diese Bemerkung ist so verletzend, dass meine Haut vor Hitze kribbelt. Charlie hat doch keine Ahnung von dem Leben meines Mannes oder meines Kindes. Ich könnte natürlich Georgia fragen, was an dem Abend los war, denn bisher habe ich ihr nur überschwänglich dafür gedankt, dass sie meinen Sohn heil nach Hause gebracht hat. Aber, ehrlich gesagt, bleibe ich lieber ahnungslos. Ich will nicht hören, dass sich mein Sohn betrinken wollte, und auch nicht, dass mein Mann eine Affäre hatte. Wer immer den Satz geprägt hat, das Schlimmste sei, nichts zu wissen, muss irre sein. Ich halte es da mit der alten Weisheit: Selig sind die Unwissenden.
Doch Charlie bleibt bei seiner Behauptung, und als Quentin endlich zum Frühstück herunterkommt, muss mir Charlie natürlich unbedingt beweisen, dass er recht hat.
»Hey, kleiner Scheißer«, sagt er. »Hast du getrunken, als du neulich abends weg warst?« Währenddessen sucht er, wie zur Veranschaulichung, im Kühlschrank nach einem Bier. Er macht den Deckel ab, und es zischt. Charlie setzt sich gierig die braune Flasche an den Hals, ich trinke noch etwas Kaffee. Es ist erst halb zehn. Ich betrachte meinen Bruder mit Missbilligung und Widerwillen zugleich.
Quentin schüttelt den Kopf. »Schön wär’s. Und ich dachte, ich seh aus wie neunzehn.«
»Nich mal annähernd«, erwidert Charlie. »Warum fragst du nicht deine Mom? Als ich in deinem Alter war, hat sie mir immer Bier besorgt, in Carbonear, mit ihrem gefälschten Ausweis.«
»Charlie!«, weise ich ihn scharf zurecht.
»Aber mach dich drauf gefasst, da musst du was für tun«, fährt Charlie unbeeindruckt fort. »Deine Mutter hat mir im Gegenzug all ihre Haushaltspflichten aufgebrummt. Ich hab so oft für sie den Scheißabwasch gemacht, ich hatte schon die reinsten Spülhände.«
»Mom, bitte«, quengelt Quentin. »Ich spüle auch.«
»Hast du den Verstand verloren?« Die Frage richtet sich aber an beide. Charlie hat unrecht. Ich glaube, dass Quentin an jenem Abend aus dem gleichen Grund davongelaufen ist, aus dem ich an jenem Abend davongelaufen bin. Weil unsere Familie auseinanderbricht, meine Mutter ständig über ihren Tod spricht, wir nicht da sind, wo wir sein sollten, und er ein verängstigtes Kind ist. In diesem Moment sitzt mir kein hormongeplagter Teenager gegenüber. Ich sehe weder seine picklige Stirn noch die braunen Haare, die auf den Unterarmen sprießen. Ich sehe nur meinen kleinen Jungen, mit weicher Haut und vertrauensvollem Blick, und es bricht mir das Herz, dass er etwas durchmacht, das ich nicht mit ein paar Küssen heilen kann.
»Quentin, Schatz, möchtest du darüber reden?«
»Was?« Er gähnt laut und legt demonstrativ müde den Kopf auf den Küchentisch.
»Darüber, warum du neulich abends weggelaufen bist.«
»Nö, eigentlich nicht«, antwortet er in seine Brust.
Meine Mutter hat sich noch gar nicht in unser Gespräch eingemischt. Sie schlägt Eier in eine Schüssel und verrührt sie energisch. »Wie viele Eier willst du, Charlie, äh … Artie … Jesus … Quentin?« Meine Mutter schüttelt frustriert den Kopf.
»Soll ich ein Namensschild tragen?«
Mich überrascht weniger, dass mein Sohn so sarkastisch sein kann, sondern dass meine Mutter solche Probleme hat, sich unsere Namen zu merken. In letzter Zeit nennt sie mich häufig Sade, Fran oder Luce, und sie spricht
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