Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Charlie so oft mit Artie an, dass er sich schon gar nicht mehr die Mühe macht, sie zu verbessern.
»Quentin, das reicht«, sage ich ruhig. »Also, würdest du mir bitte sagen, wo du neulich abends warst?«
»St. Augustine.«
Charlie grinst triumphierend. Bei der Kirche hängen immer die betrunkenen Teens herum, aber das konnte Quentin nicht wissen.
»Und was hast du da gemacht?«
»Gebetet«, sagt Quentin rundheraus. »Als Waise hat man ’nen Haufen Kram mit Gott zu klären. Dads plötzlichen Tod muss man erst mal wegstecken.«
»Eine Waise hat gar keinen Elternteil mehr«, korrigiere ich und übergehe seinen hämischen Kommentar. Ich will ihn eigentlich nicht fragen, aber nun muss ich es wissen. »Quentin, hast du versucht, Alkohol zu kaufen? Oder Drogen oder …« Was gibt es denn sonst noch?
»Nee«, sagt Quentin, und ich möchte ihm das so gerne glauben. »Ich wollte keine Drogen kaufen . Ich wollte mich anbieten, ’ne kleine Gefälligkeit gegen ’nen Schuss. Du glaubst nicht, was ein Vierzehnjähriger unter Perversen wert ist.«
Und Charlie lacht noch darüber! »Deshalb hat dich Georgia nach Hause gebracht? Wir wissen ja, dass das Mädel einsam ist, aber ich finde sie doch ein bisschen alt für dich.«
»Würg!«, macht Quentin, lacht aber auch.
Er sieht überhaupt nicht verängstigt, nervös oder verstört aus. Allerdings kann ich nicht beurteilen, ob es ihm wirklich gut geht oder er mir nachstrebt und schon genauso perfekt seine Gefühle verbergen kann.
Als ich abends auf der Veranda sitze, Tee trinke und dem fernen Rhythmus des Ozeans lausche, stelle ich im Geiste eine Liste zusammen. Worüber muss sich eine alleinerziehende Mutter eines Jungen im Teenageralter Sorgen machen? Die Liste ist erschreckend lang: Drogen, Alkohol, Gangs und Tätowierungen. Tödliche Krankheiten, chronische Krankheiten, sexuell übertragbare Krankheiten. Alkohol am Steuer, Autounfälle, Motorradunfälle, Bootsunfälle. Mich treibt sogar der Gedanke an E.-Coli- und Salmonelleninfektionen um.
Wenn ich mit Quentin in Paradise Bay bleiben würde, könnten wir wohl einige Risikofaktoren vermeiden. Paradise Bay ist immer noch wie eine ferne Insel, hier hat eine traditionelle Lebensweise überdauert, gegen die der Alltag in Toronto schwierig und gefährlich wirkt. Irgendwie erscheint mir die Vorstellung, dass Quentin hier mit Alkohol oder Drogen experimentieren könnte, weniger bedrohlich.
Ich hatte immer geglaubt, dass ich eines Tages nach Paradise Bay zurückkehren würde, aber nicht alleine. Ich hatte davon geträumt, Howie und ich würden ein altes Haus am Meer renovieren, gemeinsam kochen und an einem Abend wie diesem auf der Veranda sitzen, um den Wellen zu lauschen. Ich bin so in Gedanken versunken, ich merke gar nicht, dass sich meine Mutter in den anderen Schaukelstuhl setzt.
»Er fängt sich schon wieder«, sagt Mom.
»Was?«
»Quentin. Ich sagte, er fängt sich schon wieder. Wo warst du mit deinen Gedanken, Prissy?«
»Nirgendwo.« Es ist mir peinlich, dass sie mich bei meinen Tagträumereien ertappt hat.
»Hast wieder an ihn gedacht, wie?«
»An wen?«
»Howie. An wen sonst?«
»Nein, nun, ein wenig«, gebe ich zu. »Ich dachte gerade, dass es immer anders kommt, als man denkt.«
»Glaubst du etwa, ich hätte erwartet, meine Tochter würde mit ihrer Familie ans andere Ende von Kanada ziehen? Ich hätte niemals damit gerechnet, dass du dich aus dem Staub machst, aber du hattest ja nichts anderes im Kopf, du wolltest nur mit ihm zusammen sein. Du warst so verliebt, du wärst ihm auch in die Hölle gefolgt.«
Ich lächle traurig. Es stimmt. Damals hatte ich die Konsequenzen nicht bedacht. Ich war verknallt, und dann lockte die aufregende Stadt, in der ich mit Howie eine Familie gründen wollte. Ich hatte nicht gesehen, dass es meine Mutter traurig machen würde, wenn es plötzlich sonntags Essensreste gab oder sie Coronation Street alleine anschauen musste. Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass Mom eines Tages alt würde und beim Einkaufen, Waschen oder Treppensteigen Hilfe bräuchte. Ich hätte niemals gedacht, dass sie einmal alleine leben würde, noch dazu in einem Haus, in dem immer Trubel geherrscht hat.
»Deinen Vater hat das damals beinahe umgebracht«, sagt sie. »Ich hab nie erlebt, dass dein Vater laut geworden wäre, bis auf das eine Mal, als Howie um deine Hand angehalten hat.«
Das ist ein erschütterndes Geständnis. Ich hatte immer gedacht, dass Dad Howie liebte, denn umgekehrt war
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