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Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Titel: Die Witwen von Paradise Bay - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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zurück und laufe die Treppen hinunter. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
    »Mom?«, rufe ich und renne in die Küche. Meine Mutter liegt seltsam verrenkt auf dem Boden, zwischen den Scherben einer Teetasse und Zuckerkristallen. »Mom!« Ich rufe und schreie und schüttle sie, aber sie rührt sich nicht, und der Kessel pfeift so laut, dass mir fast das Trommelfell platzt.

Kapitel 23
    Lottie
    Meine Knie und Fußknöchel pochen. Ich bin seit dreizehn Stunden auf den Beinen. Ich möchte nur noch ein Fußbad nehmen und ein wenig schlafen, denn in sechs Stunden beginnt meine nächste Schicht. Doch schon von draußen vor meiner Haustür höre ich das Telefon. Es muss etwas passiert sein, denn es ist beinahe elf Uhr abends.
    »Hallo?«, antworte ich zögernd.
    »Lottie!« Prissys Ruf klingt wie eine Mahnung, wach zu bleiben. Ihre Stimme ist adrenalingetränkt, mein Herz schlägt schneller.
    »Was ist los?«
    »Du musst Charlie holen. Ich glaube, er ist auf der Eisbahn und spielt Hockey. Er geht nicht ans Handy. Ich bin im Krankenhaus in Carbonear. Ich fürchte, Mom liegt im Sterben.«
    »Okay«, sage ich entschieden, obwohl sich mein Magen beim Gedanken an die Eisbahn zusammenzieht und meine Eingeweide rumoren. »Ich bring ihn zu dir.«
    Nur Augenblicke später stehe ich beklommen vor der Eisbahn. Alles erinnert mich an Ches. Monatelang habe ich hier wie ein enthemmtes Groupie rumgehangen und zugeschaut, wie er den Zamboni fuhr, so wie andere Mädchen ihre Freunde bewundern, wenn sie Tore schießen oder die gegnerischen Spieler an die Bande drängen. Wenn in den Spielpausen alle auf die Toilette gingen oder draußen rauchten oder sich etwas zu essen holten, saß ich vorne auf meinem Sitz und schaute zu, wie Ches fachmännisch über das Eis kurvte, wie er seine Kreise immer weiter einengte, bis nur noch ein winziges Stückchen Eis im Innern der Bahn übrig war. Nachdem Ches fertig war, lag das Eis spiegelglatt und glänzend da, fast unberührt. Ich habe immer gedacht, dass es unglaublich befriedigend sein muss, etwas, das kurz zuvor noch voller Kratzer und Kerben war, in eine unbeschriebene Tafel zu verwandeln.
    Als ich das Haupttor öffne, schlägt mir ein Schwall kalter Luft entgegen. Mir ist, als hätte ich die Tür zu einer Zeitmaschine aufgestoßen. Ich werde mich am Beginn der dritten Spielphase mit Ches an der Snackbar treffen. Wir werden Fritten mit Sauce bestellen, die es auf einem gelben Pappteller mit ein paar Tütchen Essig gibt. Ich werde zwei Dosen Pepsi aus der Kühltruhe holen, Ches wird aus der Dose, ich werde durch einen dünnen weißen Strohhalm trinken, auf dem ich so lange herumkaue, bis er ganz verbogen ist. Ches wird bezahlen, und ich finde das so toll, dass ich dämlich grinsen muss und Ches mich fragt, was denn so verdammt komisch sei. Wir werden uns an einen wackligen Tisch mit eingetrockneten Ketchupflecken und verstreutem Salz setzen und schweigend essen. Wir werden auf das ferne Johlen der Zuschauer hören, um mitzubekommen, zu wessen Gunsten sich das Spiel entwickelt, und zusehen, wie Familienväter verbrannten Kaffee in Styroporbechern bestellen. Sie werden besonders viel Zucker und Kaffeeweißer hineintun, damit der Kaffee nicht so bitter schmeckt, ihn mit ihren Stäbchen umrühren und sich wärmend auf die Hände hauchen. Wir sind unsichtbar für sie, und ihnen wird auch entgehen, dass ich im sechsten Monat schwanger bin und Ches seine leere Pepsi-Dose zerquetscht, bis die scharfen Metallkanten winzige Kerben in seine Fingerspitzen zeichnen.
    An diesem Abend ist auf der Eisbahn sehr viel los, die Besucher stehen an der Bande, trommeln gegen das Glas und brüllen: »Hast du keine Augen im Kopf, Schiri?«, oder: »Mach den Hurensohn alle!« Mein Blick wandert automatisch hinter das Tor, wo der Zamboni abgestellt ist. Mein Herz pocht. Wer jetzt wohl die Maschine fährt? Macht er seinen Job so gut wie Ches? Ich gehe einige Schritte in die Richtung und bleibe abrupt stehen. Ich bin nicht hier, um mit meiner Vergangenheit Frieden zu schließen, sondern um Charlie zu holen.
    Mit Trikot und Helm sehen die Spieler alle gleich aus, und ich weiß auch nicht, ob Charlie im roten oder grünen Team ist, ganz zu schweigen davon, welche Nummer er trägt. Ich schlage gegen das Glas und rufe seinen Namen, aber niemand hört mich. Ich wirke wie ein erregter Fan. Ich dränge mich an der Absperrung vorbei, laufe auf das Eis und rufe seinen Namen. Er fährt auf mich zu.
    »Scheiße, was machst du denn hier?«

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