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Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Titel: Die Witwen von Paradise Bay - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Auch durch den Gesichtsschutz seines Helms hindurch sehe ich Charlies entsetzte Miene. Meine Anwesenheit kann nichts Gutes verheißen.
    Schweigend fährt er mit mir nach Carbonear. Er trägt noch immer das Hockeytrikot, und im Auto wird der Schweißgeruch so stark, dass ich das Fenster öffnen muss.
    »Scheiße, Mann, was ist bloß passiert?«, fragt Charlie zum vierten Mal. Er erwartet keine Antwort, ich habe ihm schon alles berichtet, was ich weiß. Er spricht zu sich selbst, um das Schweigen zu durchbrechen.
    Als wir auf die Intensivstation kommen, steht Prissy mitten im Gang. In ihrem roten Schlafanzug und mit dem Pferdeschwanz wirkt sie wie ein Kind. Tränen rinnen ihr übers Gesicht, und sie läuft auf Charlie zu und umarmt ihn.
    Ich harre lange mit Charlie und Prissy im Warteraum aus, in der Hoffnung auf nähere Informationen. Es war ein Schlaganfall, so viel wissen wir, aber noch steht nicht fest, ob es Clara schaffen wird, und falls ja, ob es bleibende Schäden gibt. Wir bieten einen grotesken Anblick, wir drei, Charlie in seinem Hockeytrikot, Prissy im Schlafanzug und ich in meiner Kellnerinnenuniform. Wie Schauspieler auf der Bühne eines absurden Dramas.
    Gegen vier Uhr morgens sagt Prissy, ich solle nach Hause fahren. Ich stehe kurz davor, dem nachzugeben, schon weil ich in knapp drei Stunden wieder arbeiten muss, aber Prissy wirkt so verwundbar, dass ich ungern gehen will. Sie strahlt eine stille Verzweiflung aus, so wie Ches am Morgen seines Selbstmords. Ich werde Prissy nicht verlassen, aus Angst, auch ihr könnte etwas Schreckliches passieren. Erst gestern habe ich ihr gesagt, alles würde gut, doch es kommt mir vor, als läge eine Ewigkeit dazwischen.
    »Eigentlich wollte ich jetzt zum Flughafen aufbrechen«, sagt Prissy. »Er hat mir die Scheidungsklage geschickt«, erklärt sie mit ausdrucksloser Miene.
    »Ich kann ihn für dich anrufen«, biete ich an. »Ihm sagen, was passiert ist.«
    »Nein«, sagt Prissy entschieden. Sie möchte es wohl vermeiden, dass ich jemals wieder mit Howie spreche.
    »Und Quentin?« frage ich. »Sollte er nicht Bescheid wissen, wenn seiner Großmutter etwas zugestoßen ist?«
    »Noch ist ihr nichts zugestoßen«, sagt sie nur. Dann schauen ihre Augen in die Ferne, auf das Schild über dem Ausgang, aber sie scheint es kaum wahrzunehmen. »Glaubst du, man kann absichtlich einen Schlaganfall bekommen? Denn falls es jemand kann, dann meine Mutter.«
    Ich mustere Prissy, meine Freundin aus Kindertagen, und erkenne sie kaum wieder. Früher leuchtete sie regelrecht. Sie war schön, ihr blondes Haar dick und prachtvoll, ihre blauen Augen funkelten wie die Meereswellen in der Nachmittagssonne. Niemand hätte es ihr verübelt, wenn sie auf uns herabgesehen hätte, aber das tat sie nicht. Prissy war viel schöner als ich und eroberte jedes Herz im Sturm. Dennoch habe ich mich ihr nie unterlegen gefühlt, und sie hat mir dazu niemals Anlass geboten. Prissy hatte mich zur Freundin gewählt, sie hat mir den Rücken gestärkt und mir durch manch schwere Zeit geholfen, besonders als ich jung, schwanger und von Angst gelähmt war.
    Nun, unter dem harschen Neonlicht des Krankenhauses, wirkt Prissy wie von Angst gelähmt, regelrecht verheert durch das, was sie in letzter Zeit durchlitten hat. Sie hat in den wenigen Wochen hier in Paradise Bay so viel abgenommen, dass die Knochen unter ihrer straffen Haut hervortreten. Sie ist hohlwangig und hat dunkle Ringe unter den Augen, sie wirkt beinahe geisterhaft. Selbst ihr Haar hat seinen Glanz verloren und ist zu einem faden Gelb verblichen. Ihre Finger sind abgekaut und blutig, spielen am Reißverschluss der Trainingsjacke herum, ziehen den Reißverschluss auf und zu, immer wieder, doch Prissy starrt ins Leere. Ihre Schultern hängen, niedergedrückt von der Last der Geschehnisse. Wenn ich mir Prissy so ansehe, kann ich Claras Handlungsweise nachvollziehen. Wenn jemand Mariannes Flamme auslöschen würde, würde ich womöglich auch behaupten, er sei tot.
    »Es tut mir leid«, sage ich, »dass ich es Howie verraten habe.« Die Reue dringt mir aus allen Poren, ein unangenehm vertrautes Gefühl. Reue, so scheint es, begleitet mein Leben.
    Prissy sieht mich ausdruckslos an. »Ich wünschte, er wäre wirklich tot.«
    Am liebsten würde ich erwidern, sei vorsichtig mit deinen Wünschen , aber stattdessen sage ich, dass ich nach Hause gehen und mich für die Arbeit richten muss.

Kapitel 24
    Prissy
    Mein Magen knurrt sogar beim Anblick des

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