Die Witwen von Paradise Bay - Roman
unappetitlichen Hackbratens, den meine Mutter nicht angerührt hat. Das kalte Fett bildet mittlerweile Klumpen. Ich sollte den Teller zurückgeben, denn Mom darf noch keine feste Nahrung zu sich nehmen, aber ich finde den Pfleger nicht, der das Essen gebracht hat, und die Krankenschwestern will ich damit nicht behelligen. Ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt gegessen habe. Ich erinnere mich, am Vortag eine Tüte Cracker aus dem Snackautomaten weggeknabbert zu haben, aber seither? Ich bin versucht, mich über den widerlichen Hackbraten samt tiefgefrorener Erbsen und Kartoffelbrei herzumachen, aber wenn es dann so aussieht, als hätte Mom das alles vertilgt, bekommt sie womöglich weiterhin das falsche Essen.
Meine Mutter ist auf die Reha-Station des Miller Centre in St. John’s verlegt worden. Sie muss vieles wieder lernen. Gehen, Sprechen, selbst Kauen und Schlucken, an allem muss sie arbeiten, doch wie sehr, kann ich nicht sagen, denn sie hat sich bisher zu keiner dieser Tätigkeiten durchgerungen.
»Ich schau mal, ob ich irgendetwas Puddingartiges finde«, verkünde ich mit gespieltem Enthusiasmus. Sie antwortet nicht, und so mache ich weitere Vorschläge: Suppe, Haferschleim, Grießbrei. Ich versuche sogar, sie mit Eis zu locken, wie ein Kind nach einer Mandeloperation.
Mir erscheint das völlig surreal. Der Schlaganfall liegt erst eine Woche zurück, und darum rechne ich noch jeden Augenblick damit, dass alles wie früher wird. Wenn die Krankenschwestern zur Blutabnahme, zum Temperaturmessen oder zur Überprüfung ihrer Infusion kommen, erwarte ich ständig, dass Mom sich aufsetzt und Ärzte und Krankenschwestern wegen all der Piekserei und dem Medizingedöns beschimpft. Sie steht bestimmt jeden Moment auf und bittet mich um eine Zigarette. Dass sie immer wie jetzt bleiben wird, ist undenkbar.
Als die Physiotherapeuten eintreten, gehe ich, denn in meiner Gegenwart weigert sich meine Mutter mitzuarbeiten. Manchmal habe ich heimlich durchs Fenster geschaut, so wie damals, als Quentin im Kindergarten Trennungsprobleme hatte. Die Therapeuten wollen meiner Mutter beibringen, sich alleine aufzusetzen, die Beine zu beugen, einen Pullover anzuziehen oder Zahnpasta aus der Tube zu drücken, aber meine Mutter hat sich mit diesen simplen Übungen so abgeplagt, dass ich bekümmert wegsehen musste. Sie hat noch immer kein Wort gesagt, und ich glaube, sie hat Angst vor dem Laut, der aus ihrer Kehle dringen wird.
Während der Physiotherapie besorge ich Dinge, deren Notwendigkeit mir nie eingefallen wäre: einen Duschhocker, der sich mit Saugnäpfen befestigen lässt, Badewanneneinstiegshilfen, eine Toilettensitzerhöhung, die auf den eigentlichen Toilettensitz kommt, Inkontinenzeinlagen, einen Rollstuhl, aber einen unmotorisierten, denn meine Mutter würde sich bestimmt weigern, etwas unnötig Teures zu benutzen. In einem Anfall von Optimismus kaufe ich auch eine Gehhilfe.
Wie soll ich bloß die nächsten vier bis sechs Wochen überstehen? So lange, sagen die Ärzte und Therapeuten, wird die Reha dauern. In der Zeit wollen sie einen Übungsplan erstellen und mir beibringen, meine Mutter zu pflegen.
Ich weiß nicht, ob ich der Rundumbetreuung gewachsen bin. Ich müsste Mom baden, ihr das Essen in kleine Bissen schneiden und sie füttern, mit ihr auf die Toilette gehen, sie abwischen und umziehen, falls ein Malheur passiert, kontrollieren, ob sie ihre Medikamente nimmt, sie ankleiden und dabei auch noch ihren ganz persönlichen Cheerleader spielen. Sie wäre hilflos wie ein Kleinkind, nur dass ein Kleinkind Fortschritte macht und sich der Zustand meiner Mutter allenfalls verschlechtern wird.
Abends befrage ich sie zu ihrer Physiotherapie, wie ich es jeden Tag in der Reha tue, und wie jeden Tag weigert sie sich zu antworten. Ich plappere unbeeindruckt weiter und erzähle ihr, dass Charlie eine Rollstuhlrampe zur Hintertür baut, damit man sie von der Vordertür aus nicht sieht. So etwas will bedacht sein, denn meine Mutter wäre sicher tief gekränkt, wenn sie nach Hause käme und vor dem Haus eine Rollstuhlrampe warten würde. Ich berichte ihr auch, dass Charlie ihre Sachen ins hintere Schlafzimmer bringt, damit sie keine Treppen mehr steigen muss. Dass Quentin dieses Jahr im Hockeyteam Linksaußen spielt und beim ersten Spiel der Saison gleich zwei Tore erzielte, obwohl er zwei Jahre nicht gespielt hat. Ich zeige ihr die neuen Nachthemden, die ich nachmittags im Wal-Mart gekauft habe, und halte sie zur Begutachtung
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