Die Wölfe von Yellowstone. Die ersten zehn Jahre (German Edition)
begegnen zu dürfen, so waren wir zur selben Zeit traurig, weil wir ahnten, dass so wenig Scheu vor Menschen eines Tages ihren Tod bedeuten könnte.
Am nächsten Morgen sprach ich mit dem zuständigen Biologen Rick McIntyre über das Erlebte. Das wenig zurückhaltende Verhalten der Wölfe war ihm in letzter Zeit schon mehrfach gemeldet worden. Gelegentlich hatte er gemeinsam mit einem Park-Ranger versucht, die Wölfe mit Feuerwerkskörpern und Gummikugeln zu verscheuchen. Dies schien jedoch nur wenig Eindruck auf die Teenager zu machen.
Das Verhalten der beiden Jungwölfe war einzigartig und ihrer jugendlichen Neugier zuzuschreiben. Sie waren uns nahe gekommen – zu nahe.
Wir hatten in unserer Faszination und Unsicherheit falsch reagiert. Wir hätten sie zu ihrem eigenen Besten verjagen müssen. Aber wer kann schon klar denken, wenn er einem wunderschönen, wilden Wolf gegenübersteht?
Ich fürchte, dass sich derartige Zwischenfälle gerade in Nationalparks mehren werden. Wölfe gehören zu den scheuesten Wildtieren und sind normalerweise dem Menschen gegenüber äußerst misstrauisch. Problemwölfe sind selten, und in der Wolfsszene wird immer wieder darauf hingewiesen, dass noch kein wilder Wolf einen Menschen angegriffen habe. Das ist jedoch so nicht richtig. (Ich gehe auf das Problem der Angriffe von Wölfen auf Menschen ausführlich in meinem Buch »Wolfsangriffe. Fakt oder Fiktion?« ein.)
Um in Yellowstone die wilde Wolfspopulation zu erhalten, darf es nicht so weit kommen, dass Menschen und Wölfe interagieren. Die Parkverwaltung muss also quasi an zwei Fronten arbeiten: Sie muss zum einen die Wölfe »wild« halten, das heißt bei Problemwölfen (beispielsweise »Bettelwölfe«) entsprechende Maßnahmen ergreifen und sie gegebenenfalls aus dem Park entfernen oder sogar töten. Zum anderen muss sie die Menschen »kontrollieren« und erziehen, damit sie sich nicht den Wölfen nähern. Sollten sie es dennoch tun, muss dies drastische Strafen zur Folge haben.
Fast alle Wölfe, die bisher Menschen angegriffen haben, hatten ihre natürliche Scheu verloren.
Ein wichtiger Faktor bei der Gewöhnung von Wölfen an Menschen ist das Alter des Wolfes. Die meisten Wölfe, die sich Touristen nähern, sind jung, neugierig und auch oft gelangweilt, weil sie noch nicht in vollem Umfang bei den Rudelaktivitäten mitmachen können. Wird dieses Verhalten mit Futter »belohnt«, dann lernen sie schnell, dass die Zweibeiner Nahrung bedeuten.
Neuere Studien bestätigen, dass Wölfe für ihre Größe und ihr Beutegreiferpotenzial die für Menschen am wenigsten gefährliche Wildtierart sind.
In Yellowstone stellte man die erste Annäherung von Wölfen an Menschen 1999 im Lamar Valley fest. Ein Druid-Jährling zeigte nur wenig Angst und näherte sich mehrmals Touristen. Außerdem durchsuchte er Mülltonnen und fraß eine Plastiktüte.
2001 näherte sich ein weiterer Druid-Jährling mehrmals Beobachtern. Während seine Rudelmitglieder im Eiltempo fortrannten, lief der Jungwolf dicht an den Menschen vorbei. Einmal rannte ein Biologe auf den Wolf zu und schrie ihn an, woraufhin das Tier floh. Als die Wölfe Ende des Sommers weiterzogen, verschwand mit ihnen auch das Problem. Der Jährling wanderte Anfang 2002 von seinem Rudel ab und wurde später außerhalb des Parks erschossen. Ohne die nötige Furcht vor den Menschen hatte er sich zu weit auf das Gebiet einer Ranch gewagt.
Wolfsbeobachtungen in Yellowstone werden populärer. Die Tiere sind täglich zu sehen. Wenn sie die Straße überqueren, folgen ihnen Touristen und Fotografen oft mit waghalsigen Fahrmanövern, weil die Besucher möglichst nahe an die Wölfe heran wollen. Inzwischen hat die Parkverwaltung im Sommer zwei Leute angestellt, die versuchen, die Touristen in Zaum zu halten und die zur Not auch die Straße blockieren, damit ein Tier ungestört zur Höhle kann.
Zusätzlich zum Management von Wölfen muss der Park Service nun auch Touristen managen.
Klassenzimmer Yellowstone
Es ist Mitte Mai 2001. Ich sitze in dem wohl abenteuerlichsten Klassenzimmer der Welt: in einer Blockhütte auf der Buffalo Ranch, mitten in Yellowstones Lamar Valley. Unsere Klasse besteht aus 14 bunt zusammengewürfelten Menschen aus aller Welt. Da ist eine Lehrerin aus Quebec, eine Journalistin aus Oslo, die für das British Airways Magazin einen Bericht schreiben soll, ein Student aus der Schweiz und ein Programmierer aus Mexiko. Wir alle sind hierher gekommen, um an dem
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