Die Wölfe von Yellowstone. Die ersten zehn Jahre (German Edition)
wieder die Zeit kommen, wo wir uns – wie 1995/96 – glücklich schätzen dürfen, wenn wir sie aus der Ferne mit dem Spektiv beobachten können.
Vielleicht bin ich zu egoistisch geworden, die Wölfe mit anderen zu teilen. Vielleicht ertrage ich es auch einfach nicht mehr, inmitten von lärmenden Menschenmassen zu stehen oder im »Wolfsstau« im Auto zu sitzen und in die Augen eines Wolfes zu schauen, der verzweifelt versucht, einen Weg über die Straße zu seiner Familie zu finden. Wir haben sie gegen ihren Willen hierher gebracht und ihnen ein Zuhause gegeben. Jetzt sollten wir ihnen den Raum geben, in diesem Zuhause ungestört zu leben.
Lieben wir die Wölfe zu Tode?
Es war am 25. Februar 2002, vier Tage nach meinem Geburtstag, als wir (vier Wolfsbeobachter aus Deutschland) ein Wolfserlebnis der besonderen Art hatten, das uns in ein Wechselbad der Gefühle schicken sollte.
Die Druids hatten am Morgen nur etwa 20 Meter von der Straße entfernt im Wald einen Hirsch getötet. Einzelne Wölfe kehrten den ganzen Tag immer wieder zur Beute zurück, um daran zu fressen. Entsprechend voll war es auf der Straße mit Fotografen und »Wolfs-Paparazzi«.
Am Abend kurz vor der Dämmerung stießen auch wir dazu. Zu diesem Zeitpunkt fraßen noch zwei Jungwölfe an dem Kadaver, die sich nicht im geringsten weder von den Zuschauern noch den Fotografen stören ließen.
Einmal tauchte kurz einer der erwachsenen Druids oberhalb des Kadavers auf. Ein Blick auf uns sagte ihm »zu viele Zweibeiner«, und er zog wieder ab, nicht ohne vorher noch einmal einen Seitenblick auf seine zwei gefräßigen Familienmitgliedern zu werfen.
Als die beiden satt waren, gingen wir davon aus, dass sie ihrem Kollegen folgen würden. Aber weit gefehlt. Schon beim Fressen hatten sie uns ständig aus den Augenwinkeln gemustert. Ihnen war klar, dass wir ihnen weder ihr Fressen wegnehmen würden noch sie bedrohten. Neugierig geworden kamen sie zaghaft näher – Nackenhaare gesträubt, Ohren aufmerksam nach vorne, aber Schwanz eingeklemmt, was ein Zeichen ihrer Neugier aber auch ihrer Unsicherheit war. Erst kam der eine Wolf, vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend. An einem Baum, der direkt an der Straße stand, machte er Halt. Dann näherte sich der andere. Ihr weiches, graues Fell war so nah, dass wir es fast hätten berühren können. Die gelben Augen ließen uns nicht aus dem Blick.
Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Obwohl ich da schon seit über zwölf Jahren Wolfsaufklärung betrieb und auch des Öfteren nahen Kontakt mit Gehegewölfen hatte, empfand ich einen Hauch von Furcht. Die Tiere reichten mir bis zur Taille. Sie waren jung und kräftig mit überproportional großen Pfoten, ihre Schnauzen rot verschmiert vom Blut des Hirschen. Ich musste feststellen, dass trotz aller Aufklärung und Liebe zu den Wölfen immer noch ein Hauch von Mittelalter tief in meinen Genen verwurzelt ist.
Gleichzeitig empfand ich eine unbändige Freude. Tränen stiegen mir in die Augen, weil mir die Natur die einmalige Gelegenheit gegeben hatte, die Nähe eines wilden und so schönen Tieres zu erleben.
An Fotografieren war schon lange nicht mehr zu denken. Zum einen war es jetzt zu dunkel, zum anderen zitterten wir alle zu sehr, um unsere Kameras ruhig zu halten – ob von den 20 Grad Kälte oder der Anspannung und Aufregung mag dahingestellt bleiben.
Während wir zu Salzsäulen erstarrten, um ja durch keine unbedachte Bewegung die Wölfe zu verscheuchen, schauten uns die beiden Jungwölfe weiterhin intensiv und aufmerksam zugleich an. Offensichtlich versuchten sie herauszufinden, was für merkwürdige Wesen diese Zweibeiner waren. Der stumme Austausch schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann, nachdem sie beschlossen hatten, dass wir keine Gefahr bedeuteten, trabten sie langsam die Straße entlang, nicht ohne zwischendurch noch an unseren Autos zu schnuppern und gelegentlich auch das eine oder andere Fahrzeug mit einem kräftigen Urinstrahl zu markieren.
Es herrschte eine merkwürdige Stimmung unter den Wolfsbeobachtern. Alle Hektik hielt inne. Die sonst so lauten Fotografen stiegen stumm in ihre Wagen und fuhren davon – weg von den Wölfen, als ob sie Angst hätten, durch ein erneutes Verfolgen der Tiere den Zauber zu zerstören, der entstanden war. Auch wir machten uns still auf den Heimweg.
Wir wussten alle, dass das, was wir gerade erlebt hatten, nicht sein durfte. Und wenngleich wir überaus glücklich waren, einem wilden Wolf so nah
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