Die Wohlgesinnten
persönlich den Oberbefehl über das Heer übernommen habe, überwiegend positiv bewertet: Jetzt, so hieß es, könnten ihm diese alten preußischen Reaktionäre nicht mehr heimlich Knüppel zwischen die Beine werfen; im Frühjahr würden die Russen vernichtet sein. In der Wehrmacht schien man skeptischer. Von Hornbogen, der Ic, erzählte, es gebe Gerüchte über eine geplante Offensive im Süden, die das Erdöl des Kaukasus zum Ziel habe. »Ich verstehe das nicht mehr«, gestand er mir im Kasino nach ein oder zwei Gläsern. »Sind unsere Ziele nun politischer oder wirtschaftlicher Art?« Beides sei wohl der Fall, meinte ich; doch für ihn war die Frage unserer Möglichkeiten entscheidend. »Die Amerikaner werden einige Zeit brauchen, um ihre Produktion zu erhöhen und genügend Material zusammenzutragen. Das verschafft uns Zeit. Aber wenn wir bis dahin nicht mit den Roten fertig geworden sind, können wir einpacken.« Trotz allem schockierten mich seine Äußerungen; noch nie hatte ich eine pessimistische Einschätzung so ungeschminkt gehört. Sicher, ich hatte schon an die Möglichkeit eines Sieges gedacht, der begrenzter als vorgesehen ausfiel, etwa einen Verhandlungsfrieden, in dem wir Stalin Russland ließen, aber das Ostland und die Ukraine sowie die Krim behielten. Aber eine Niederlage? Das erschien mir doch undenkbar. Ich hätte das gerne mit Thomas besprochen, aber der war weit weg, in Kiew, und ich hatte seit seiner Beförderung zum Sturmbannführer, die er mir in der Antwort auf meinen Brief aus Perejaslaw mitgeteilt hatte, nichts mehr von ihm gehört. In Charkow gab es nicht viele Kameraden, mit denen ich darüber hätte sprechen können. Am Abend soff Blobel und erging sich in Verwünschungen gegen die Juden, die Kommunisten, sogar die Wehrmacht; die Offiziere hörten ihm zu, spielten Billard oder zogen sich auf ihre Stuben zurück. Oft folgte ich ihrem Beispiel. Damals las ich Stendhals Tagebuch, darin gab eskryptische Abschnitte, die sich in erstaunlicher Weise mit meinen Empfindungen deckten: Für Juden verboten … das drückende Wetter erschöpft mich … das Leiden macht mich zur Maschine … Da ich mich – wohl infolge des ständigen Erbrechens – schmutzig fühlte, begann ich, fast zwanghaft auf meine Hygiene zu achten; mehrfach hatte Woytinek mich bereits dabei ertappt, wie ich meine Uniform eingehend auf Spuren von Schlamm oder anderen Verunreinigungen untersuchte, und mir befohlen, keine Maulaffen feilzuhalten . Gleich nach der ersten Beaufsichtigung der Aktion hatte ich Hanika meine beschmutzte Uniform zum Waschen gegeben; doch jedes Mal, wenn er sie mir zurückgab, fand ich neue Flecken, sodass ich ihn mir schließlich energisch vornahm und ihm in sehr deutlichen Worten auseinandersetzte, was ich von seiner Faulheit und Unfähigkeit hielt, bevor ich ihm meinen Uniformrock ins Gesicht warf. Sperath hatte mich aufgesucht, um mich zu fragen, ob ich gut schliefe; als ich es bejahte, war er zufrieden, und es stimmte, ich schlief nachts wie ein Stein, sobald ich mich ins Bett legte, doch mein Schlaf wurde von schweren, bedrückenden Träumen heimgesucht, nicht eigentlich Albträumen, eher wie lange unterseeische Strömungen, die den Schlick am Boden aufwühlten, während die Oberfläche glatt und ruhig blieb. Ich muss erwähnen, dass ich den Exekutionen wieder regelmäßig beiwohnte, niemand verlangte es, ich tat es aus eigenem Antrieb. Ich schoss nicht selbst, sondern beobachtete die Männer, die schossen, vor allem Offiziere wie Häfner oder Janssen, die von Anfang an dabei waren und nun vollkommen abgestumpft gegenüber ihrer Henkerstätigkeit zu sein schienen. Ich war wohl wie sie. Ich ahnte, dass ich, wenn ich mir dieses beklagenswerte Schauspiel zumutete, nicht mehr so sehr den Skandal vor Augen hatte, das unüberwindbare Gefühl einer Übertretung, eines ungeheuerlichen Verstoßes gegen das Gute und Schöne, sondern dass sich das Empfinden für diesenSkandal von selbst abnutzte, dass in der Tat eine Gewöhnung einsetzte und man auf lange Sicht nicht mehr viel empfand; was ich also – verzweifelt, aber vergeblich – wiederzufinden suchte, war dieser Urschock, dieses Gefühl eines Bruchs, einer unendlichen Erschütterung meines ganzen Seins; stattdessen empfand ich nur noch eine deprimierende und beängstigende Erregung, immer kürzer, bitterer, sich mit dem Fieber und meinen anderen körperlichen Symptomen vermischend, und so wühlte ich mich, ohne dessen gewahr zu werden, immer tiefer
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