Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
in den Schlamm hinein, während ich doch das Licht suchte. Ein kleiner Zwischenfall warf ein grelles Licht auf diese breiter werdenden Risse. In dem weiten verschneiten Park wurde hinter dem Schewtschenko-Standbild eine junge Partisanin zum Galgen geführt. Eine Vielzahl deutscher Schaulustiger versammelte sich: Landser der Wehrmacht und Orpos, aber auch Angehörige der Organisation Todt, »Goldfasanen« aus dem Ostministerium, Piloten der Luftwaffe. Es handelte sich um ein ziemlich mageres junges Mädchen, mit einem Anflug von Hysterie im Gesicht, das dichte schwarze Haar war kurz und unregelmäßig geschnitten, wie mit der Gartenschere. Ein Offizier fesselte ihr die Hände, stellte sie unter den Galgen und legte ihr die Schlinge um den Hals. Dann defilierten die anwesenden Soldaten und Offiziere an ihr vorbei und küssten sie, einer nach dem anderen, auf den Mund. Sie blieb stumm, die Augen weit geöffnet. Einige küssten sie zärtlich, fast keusch, wie Pennäler; andere nahmen ihren Kopf in beide Hände, um ihr gewaltsam die Lippen zu öffnen. Als ich an der Reihe war, sah sie mich an, mit einem klaren, leuchtenden Blick, vollkommen reingewaschen, sie verstand alles, wusste alles, und dieses reine Wissen setzte mich in Flammen. Knisternd verbrannte meine Kleidung, die Haut auf meinem Bauch platzte, das Fett brutzelte, das Feuer fauchte in meinen Augenhöhlen, im Mund und reinigte das Innere meines Schädels. Die Hitzewar so intensiv, dass sie den Kopf abwenden musste. Ich verkohlte, und die Reste von mir verwandelten sich in eine Salzsäule; rasch abgekühlt, lösten sich Stücke, hier eine Schulter, dort eine Hand, dann die Hälfte des Kopfes. Schließlich fiel ich gänzlich zu ihren Füßen zusammen, der Wind erfasste dieses Salzhäufchen und zerstreute es. Schon rückte der nächste Offizier nach, und als alle sie passiert hatten, wurde sie gehängt. Tagelang dachte ich über diese seltsame Szene nach; doch meine Gedanken stellten sich wie ein Spiegel vor mir auf und zeigten mir immer nur mein tatsächliches Abbild, seitenverkehrt, aber naturgetreu. Auch die Leiche dieses jungen Mädchens war für mich ein Spiegel. Der Strick war gerissen, oder man hatte ihn durchgeschnitten, jedenfalls lag sie im Schnee des Parks der Gewerkschaften, das Genick gebrochen, die Lippen geschwollen, eine entblößte Brust von den Hunden angefressen. Ihr struppiges Haar umstand ihr Gesicht wie das Haar der Meduse, und sie erschien mir unsagbar schön, im Tode zu Hause wie eine Madonnenstatue, Notre-Dame-des-Neiges, Unsere Liebe Frau vom Schnee. Egal, welchen Weg ich wählte, um vom Hotel zu unserer Dienststelle zu gelangen, immer kam ich an ihr vorbei, einer hartnäckigen, eigensinnigen Frage, die mich in ein Labyrinth müßiger Spekulationen warf und mir den Boden unter den Füßen entzog. So ging es wochenlang.
    Blobel beendete die Aktion einige Tage nach Neujahr. Mehrere Tausend Juden hatten wir im ChTS behalten, für Zwangsarbeiten im Stadtgebiet; sie sollten später erschossen werden. Wir hatten gerade erfahren, dass Blobel abgelöst werden sollte. Er selbst wusste es seit Wochen, hatte aber nichts gesagt. Es wurde höchste Zeit, dass er ging. Seit seiner Ankunft in Charkow war er nur noch ein Nervenwrack, seine Verfassung war fast so schlecht wie damals in Luzk: Eben noch hatte er uns zusammengerufen, um sich voller Begeisterung über die letzten Erfolgszahlen des Sonderkommandosauszulassen, im nächsten Augenblick schon konnte er über eine Dummheit, eine falsche Bemerkung vollkommen außer sich geraten. Eines Tages Anfang Januar betrat ich sein Büro, um ihm einen Bericht von Woytinek zu bringen. Ohne meinen Gruß zu erwidern warf er mir ein Blatt Papier hin: »Schauen Sie sich diesen Scheiß an.« Er war betrunken, blass vor Wut. Ich nahm das Blatt auf: Es war ein Befehl des Generals von Manstein, des Oberbefehlshabers der auf der Krim stehenden 11. Armee. »Ihr Mentor Ohlendorf hat mir den geschickt. Lesen Sie, lesen Sie! Sehen Sie das, dort unten? Für Offiziere ist es unehrenhaft, den Hinrichtungen von Juden beizuwohnen. Unehrenhaft! Diese Arschlöcher. Als ob das, was die tun, ehrenhaft wäre … als ob sie ihre Gefangenen anders behandeln! … Ich habe am Weltkrieg teilgenommen. Da haben wir uns noch um die Gefangenen gekümmert, wir haben ihnen zu essen gegeben und sie nicht wie Vieh vor Hunger krepieren lassen.« Auf dem Tisch stand eine Flasche Schnaps; er füllte ein Glas bis zum Rand und leerte es mit einem Zug.

Weitere Kostenlose Bücher