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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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nahm den ersten Zug nach Kiew. Ich glaube, niemand vermisste ihn, zumal der neue Kommandant, Standartenführer Dr. Erwin Weinmann, sich positiv von seinem Vorgänger unterschied. Weinmann war noch jung, kaum ein paar Jahre älter als ich, sehr zurückhaltend, mit sorgenvollem, fast traurigem Gesicht und aufrichtiger nationalsozialistischer Gesinnung. Wie Dr. Thomas war er von Haus aus Arzt, arbeitete aber schon seit einigen Jahren bei der Staatspolizei. Er machte sofort einen gutenEindruck. »Ich habe einige Tage bei Brigadeführer Thomas in Kiew verbracht«, teilte er uns gleich zu Anfang mit, »und er hat mir erklärt, mit welchen ungeheuren Schwierigkeiten die Offiziere und Männer dieses Kommandos zu kämpfen hatten. Seien Sie versichert, dass es nicht umsonst war und dass Deutschland stolz auf Sie ist. Ich werde mich in den folgenden Tagen mit der Arbeit des Kommandos vertraut machen; zu diesem Zweck möchte ich mit jedem von Ihnen offene und ehrliche Einzelgespräche führen.«
    Weinmann vermittelte uns ein neues Gefühl der Bedeutung. Reichenau war Anfang des Jahres schließlich an der Spitze des AOK 6 abgelöst worden, und zwar von jemandem, der neu auf dem Kriegsschauplatz war, dem General der Panzertruppe Friedrich Paulus, früher Reichenaus Chef des Stabes, der seit 1940 im OKH mit Planungsarbeiten beschäftigt gewesen und von Reichenau selbst empfohlen worden war. Doch Paulus hatte seinen Gönner schon verloren. Am Tag vor Weinmanns Ankunft in Charkow war Reichenau nach seinem allmorgendlichen Waldlauf bei minus zwanzig Grad zusammengebrochen, nach einem Herzinfarkt, wie die einen sagten, nach einem Schlaganfall, wie andere meinten; Weinmann hatte die Neuigkeit von einem Offizier des AOK im Zug gehört. Da Reichenau noch lebte, hatte der Führer befohlen, ihn nach Deutschland zu bringen; doch sein Flugzeug machte bei Lemberg eine Bruchlandung; als man ihn fand, war er noch an seinen Sitz geschnallt und hielt den Marschallstab in der Hand, ein trauriges Ende für einen deutschen Helden. Nach einigem Zögern wurde Generalfeldmarschall von Bock zu seinem Nachfolger ernannt; am Tag seiner Ernennung unternahmen die Sowjets, um aus ihren Erfolgen vor Moskau Kapital zu schlagen, von Isjum im Süden Charkows aus eine Offensive in Richtung Poltawa. Inzwischen herrschten dreißig Grad minus, kaum ein Fahrzeug war noch einsatzbereit, der Nachschub musste mit Panjewagen abgewickelt werden, und auf der Rollbahn gingen mehr Männer verloren als an der Front. Die Russen ihrerseits setzten einen gefährlichen neuen Panzer, den T 34, massiert ein, dem die Kälte nichts anzuhaben vermochte und der Angst und Schrecken unter unseren Landsern verbreitete; glücklicherweise hielt er unserer Acht-acht nicht stand. Paulus verlegte das AOK 6 von Poltawa nach Charkow, was Leben in unsere Stadt brachte. Die Roten waren sichtlich bemüht, Charkow einzukesseln, doch ihr nördlicher Keil kam überhaupt nicht in Bewegung; der südliche drückte unsere Linien ein und wurde Ende des Monats nur mit Mühe vor Krasnograd und Pawlograd zum Stehen gebracht, wodurch eine riesige Beule von mehr als siebzig Kilometern in unserer Front entstand, ein gefährlicher Brückenkopf jenseits des Donez. Die Partisanentätigkeit hinter unseren Linien wurde intensiver; sogar Charkow war nicht mehr sicher: Trotz einer erbarmungslosen Vergeltungsaktion häuften sich die Anschläge; zweifellos trug die in der Stadt wütende Hungersnot dazu bei. Auch das Sonderkommando blieb nicht verschont. Eines Tages Anfang Februar hatte ich einen Termin in einer Wehrmachtsdienststelle am Terelewa-Platz im Stadtzentrum. Hanika begleitete mich, er wollte etwas zur Aufbesserung unserer Verpflegung auftreiben, und ich überließ ihn seinen Besorgungen. Die Besprechung war kurz, und ich war bald wieder draußen. Oben auf den Eingangsstufen blieb ich stehen, um die kalte, schneidende Luft einzuatmen, dann zündete ich mir eine Zigarette an. Ich betrachtete den Platz, inhalierte die ersten Züge. Der Himmel war hell, von jenem reinen Blau der russischen Winter, das man nirgendwo sonst sieht. An der Seite, auf Kisten sitzend, warteten drei alte Kolchosbäuerinnen darauf, ihr armseliges verschrumpeltes Gemüse zu verkaufen; auf dem Platz, zu Füßen des bolschewistischen Denkmals anlässlich der Befreiung Charkows (der von 1919), spielte ein halbes Dutzend Kinder trotz der Kältemit einem Ball aus Lumpen. Ein Stück weiter unten lungerten einige unserer Orpos herum. Hanika stand an

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