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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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blieben wir manchmal vor einem der großen Fenster des Salons am Tisch sitzen, um uns zu unterhalten. Partenau war Rheinländer und stammte aus einer katholischen Kleinbürgerfamilie. Erhatte eine schwere Kindheit gehabt. Schon vor der Wirtschaftskrise von 1929 war die Familie ständig vom Abstieg ins Proletariat bedroht gewesen; sein Vater, ein Soldat, von kleiner Statur, aber tyrannisch, war besessen von der Frage seiner sozialen Stellung und verschwendete die bescheidenen Geldmittel, die der Familie zur Verfügung standen, um den Schein zu wahren: Täglich gab es Kartoffeln und Kohl, aber in der Schule sollten die Jungen Anzüge, gestärkte Kragen und blank geputzte Schuhe tragen. Partenau war streng religiös erzogen worden; bei der geringsten Verfehlung ließ sein Vater ihn auf den kalten Fliesen niederknien und beten; er hatte den Glauben seiner Kindheit verloren oder ihn vielmehr durch den Nationalsozialismus ersetzt. Die Hitlerjugend, dann die SS hatten ihm endlich ermöglicht, seinem erstickenden Milieu zu entfliehen. Zur Zeit der Feldzüge gegen Griechenland und Jugoslawien war er noch in der Ausbildung und untröstlich, sie versäumt zu haben; daher war seine Freude grenzenlos, als er für den Russlandfeldzug zur Leibstandarte Adolf Hitler versetzt wurde. Wie er mir eines Abends gestand, war er entsetzt gewesen, als er die radikalen Methoden kennenlernte, die Wehrmacht und SS bei der Partisanenbekämpfung anwandten; doch seine feste Überzeugung, dass nur ein barbarischer und absolut unmenschlicher Feind Anlass zu solchen extremen Maßnahmen gegeben habe könne, hatte sich dadurch noch vertieft. »Beim SD müssen Sie Grausiges gesehen haben«, fügte er hinzu; ich versicherte ihm, dass das zuträfe, ich es aber vorzöge, mich über das Thema nicht weiter auszulassen. Stattdessen erzählte ich ihm ein bisschen aus meinem Leben, vor allem aus der Kindheit.
    Ich bin ein zartes Kind gewesen. Meine Schwester und ich waren erst ein Jahr alt, als unser Vater in den Krieg ging. Milch und andere Nahrungsmittel waren knapp, ich blieb dünn, blass und nervös. Damals spielte ich gern in dem Wald an unserem Haus; wir wohnten im Elsass, dort gibt es großeWälder, ich beobachtete Insekten oder watete in Bachläufen herum. Ein Erlebnis ist mir deutlich in Erinnerung geblieben: Auf einer Wiese oder einem Feld fand ich einen ausgesetzten Welpen, er sah so unglücklich aus, dass er mir entsetzlich leidtat und ich ihn mit nach Hause nehmen wollte; doch als ich mich näherte, um ihn auf den Arm zu nehmen, wich er erschrocken zurück. Ich sprach beruhigend auf ihn ein, um ihn dazu zu bringen, mir zu folgen, aber ohne Erfolg. Er lief nicht ganz davon, sondern hielt immer einen Abstand von einigen Metern, ließ mich jedoch nicht näher herankommen. Schließlich setzte ich mich ins Gras und brach in Tränen aus, überwältigt von Mitleid für dieses Hündchen, das mir nicht erlauben wollte, ihm zu helfen. Ich flehte es an: »Bitte, kleiner Hund, komm mit!« Am Ende gab er nach. Meine Mutter war entsetzt, als sie den kleinen Kläffer im Garten sah, angebunden am Zaun, und überredete mich, ihn ins Tierheim zu bringen, wo man ihn – der Gedanke hat mich bis heute nicht losgelassen – tötete, kaum dass ich mich umgedreht hatte. Vielleicht ereignete sich dieser Vorfall auch nach dem Krieg und der endgültigen Heimkehr meines Vaters, in Kiel, wohin wir gezogen waren, als die Franzosen das Elsass erneut in Besitz genommen hatten. Als mein Vater endlich wieder bei uns war, sprach er wenig, er wirkte düster, verbittert. Mit seinen Zeugnissen fand er rasch eine gute Stellung in einer großen Firma; zu Hause saß er oft allein in seiner Bibliothek, in die ich mich, wenn er nicht da war, häufig schlich, um mit den aufgespießten Schmetterlingen zu spielen, von denen einige so groß waren wie der Handteller eines Erwachsenen; ich holte sie aus ihren Kästen und ließ sie wie ein bunt bemaltes Papprad an ihren langen Nadeln kreisen, bis er mich eines Tages überraschte und bestrafte. Damals begann ich bei unseren Nachbarn zu stibitzen, höchstwahrscheinlich, wie ich später begriff, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken: Ich stahl Blechpistolen,Taschenlampen, anderes Spielzeug, das ich in einem Versteck hinten in unserem Garten vergrub; selbst meine Schwester wusste nichts davon. Eines Tages kam man mir auf die Schliche. Meine Mutter glaubte, ich hätte aus reiner Freude, Böses zu tun , gestohlen; mein Vater setzte mir geduldig

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