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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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die Rechtslage auseinander, dann versohlte er mir den Hintern. Das passierte nicht in Kiel, sondern auf Sylt, während der Sommerferien. Um auf die Insel zu kommen, reiste man per Bahn über den Hindenburgdamm an: Bei Flut sind die Gleise von Wasser umgeben, und vom Zug aus hatte man den Eindruck, durchs Meer zu fahren, die Wellen reichten an die Räder heran und schlugen gegen die Radnaben! Nachts zischten in meinen Träumen Elektrozüge durch den gestirnten Himmel über meinem Bett.
    Mir scheint, ich habe mich schon sehr früh begierig um die Liebe aller Menschen bemüht, die mir begegneten. Bei den Erwachsenen zumindest war dieses Bemühen in der Regel von Erfolg gekrönt, denn ich war ein hübscher und sehr intelligenter Junge. Doch in der Schule bekam ich es mit grausamen und aggressiven Kindern zu tun, von denen viele ihre Väter im Krieg verloren hatten oder von Vätern geschlagen und vernachlässigt wurden, die verroht und halb verrückt aus den Schützengräben heimgekehrt waren. In der Schule rächten sie sich für diesen häuslichen Liebesmangel grausam an den schwächeren und zarteren Kindern. Ich wurde geschlagen, hatte wenig Freunde; wenn im Sportunterricht Mannschaften zusammengestellt wurden, wollte mich niemand haben. Doch statt um ihre Zuneigung zu betteln, bemühte ich mich um ihre Aufmerksamkeit. Ich versuchte auch, die Lehrer zu beeindrucken, die gerechter waren als die Jungen meines Alters; da ich intelligent war, fiel mir das nicht schwer: Woraufhin mich allerdings die anderen als Streber bezeichneten und noch heftiger verprügelten. Natürlich erzählte ich meinem Vater nichts davon.
    Nach der Niederlage, wir wohnten inzwischen in Kiel, musste er wieder fort, wir wussten weder wohin noch warum; von Zeit zu Zeit kam er zu Besuch, dann verschwand er wieder; erst Ende 1919 blieb er endgültig bei uns. 1921 erkrankte er schwer und konnte nicht mehr arbeiten. Seine Genesung zog sich endlos hin, die Stimmung zu Hause wurde gereizt und freudlos. Anfang des Sommers, ich habe ihn grau und kalt in Erinnerung, kam sein Bruder uns besuchen. Dieser jüngere Bruder war lustig und komisch und erzählte so fabelhafte Geschichten vom Krieg und von seinen Reisen, dass ich vor Bewunderung ganz aus dem Häuschen geriet. Meiner Schwester gefielen sie weniger. Einige Tage darauf verreiste mein Vater mit ihm, um unseren Großvater zu besuchen, den ich nur ein- oder zweimal gesehen hatte und an den ich mich kaum erinnerte (die Eltern meiner Mutter waren, glaube ich, schon tot). Ich erinnere mich noch heute an diesen Aufbruch: Meine Mutter, meine Schwester und ich standen aufgereiht vor der Haustür, und mein Vater verstaute sein Gepäck im Kofferraum des Autos, das ihn zum Bahnhof bringen sollte: »Auf Wiedersehen, meine Kleinen«, sagte er lächelnd, »keine Sorge, ich bin bald zurück.« Ich habe ihn nie wiedergesehen. Meine Zwillingsschwester und ich waren damals fast acht Jahre alt. Sehr viel später erfuhr ich, dass meine Mutter nach einiger Zeit einen Brief von meinem Onkel bekommen hatte: Nach dem Besuch bei ihrem Vater hatten sie sich offenbar gestritten, woraufhin mein Vater allem Anschein nach per Bahn in die Türkei oder den Mittleren Orient gereist war; mehr wusste mein Onkel nicht über sein Verschwinden; auch seine Chefs nicht, mit denen sich meine Mutter in Verbindung setzte. Ich habe diesen Brief meines Onkels nie zu Gesicht bekommen; meine Mutter hat es mir eines Tages erzählt; weder habe ich mich vom Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen überzeugen noch diesen Bruder wieder ausfindig machen können, den es aber zweifellosgegeben hat. Alles dies habe ich Partenau nicht erzählt: Aber ihr sollt es wissen.
    Ich war jetzt regelmäßig mit Partenau zusammen. In sexueller Hinsicht wurde ich nicht ganz schlau aus ihm. Seine Unbeirrbarkeit und seine Begeisterung für den Nationalsozialismus und die SS konnten sich als Hindernis erweisen; doch ich spürte, dass die sexuelle Orientierung bei ihm im Grunde nicht stärker ausgeprägt war als bei vielen anderen. Im Internat hatte ich rasch begriffen, dass es die sexuelle Umpolung an sich nicht gab, die Jungen begnügten sich einfach mit den Gegebenheiten; beim Militär und in Gefängnissen verhielt es sich vermutlich nicht anders. Gewiss, seit 1937, dem Jahr meiner vorläufigen Festnahme wegen der Geschichte im Tiergarten, hatte sich die offizielle Haltung erheblich verschärft. Dabei schien sich das Augenmerk besonders auf die SS zu richten. Im vorangehenden

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