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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Sewastopol befand. Ich wurde in einem Sanatorium im Westen von Jalta untergebracht, über der Straße nach Liwadija; es war mit seiner Rückseite an ein steiles verschneites Gebirge gebaut, das die Stadt überragt, ein ehemaliger Fürstenpalast, der in ein Kurheim für sowjetische Arbeiter umgewandelt worden war, von den Kämpfen ein bisschen ramponiert, aber rasch wieder ausgebessert und frisch gestrichen. Ich hatte ein nettes kleines Zimmer im zweiten Stock, mit Bad und Balkon: Das Mobiliar ließ zu wünschen übrig, aber zu meinen Füßen, hinter den Zypressen, erstreckte sich das Schwarze Meer, glatt, grau, ruhig. Ich wurde nicht müde, es zu betrachten. Es war zwar noch ein wenig kühl, aber die Luft war sehr viel milder als inder Ukraine, und ich konnte auf den Balkon hinausgehen, um zu rauchen; ansonsten lag ich auf dem Sofa gegenüber der Balkontür und verbrachte lange Stunden mit Lektüre. Lesestoff hatte ich genug: Außer meinen eigenen Büchern stand mir auch die Bibliothek des Sanatoriums zur Verfügung, die vor allem aus den zurückgelassenen Büchern ehemaliger Patienten bestand, daher sehr eklektisch war, aber neben dem unlesbaren Mythus des 20. Jahrhunderts die deutschen Übersetzungen von Tschechow enthielt, die ich mit großem Vergnügen entdeckte. Ich bekam keine medizinischen Anwendungen. Bei meiner Ankunft hatte mich ein Arzt untersucht und mich nach meinen Beschwerden gefragt. »Das ist nicht der Rede wert«, meinte er, nachdem er den Krankenbericht von Dr. Sperath gelesen hatte. »Nervöse Erschöpfung. Ruhe, Bäder, keine Aufregung, so wenig Alkohol wie möglich und Vorsicht im Umgang mit den Ukrainerinnen. Das gibt sich von allein. Schönen Aufenthalt.«
    Im Sanatorium ging es recht fröhlich zu: Die meisten Patienten und Rekonvaleszenten waren junge Subalternoffiziere aller Waffengattungen, deren schlüpfriger Humor abends, unter dem Einfluss des zu den Mahlzeiten servierten Krimweins und des Frauenmangels, äußerst gewagte Formen annahm. Möglicherweise trug das zu dem überraschend freimütigen Ton der Unterhaltungen bei: Äußerst respektlose Witze über die Wehrmacht und die Würdenträger der Partei machten die Runde; ein Offizier, der mir seine Medaille Winterschlacht im Osten zeigte, fragte mich spöttisch: »Und Sie von der SS, haben Sie noch keinen Gefrierfleischorden gekriegt?« Der Umstand, dass sie einen Offizier vom SD vor sich hatten, störte diese jungen Burschen nicht im Geringsten; offenbar setzten sie als selbstverständlich voraus, dass ich auch ihre gewagtesten Ansichten teilte. Am kritischsten waren die Offiziere der Heeresgruppe Mitte; während wir in der Ukraine durchaus der Meinung waren, die Entsendungvon Guderians 2. Panzerarmee Anfang August sei ein Geniestreich gewesen, der die Russen im Rücken gefasst und dadurch ermöglicht habe, die festgefahrene Südfront wieder in Bewegung zu bringen, Kiew einzunehmen und fristgerecht zum Donez vorzustoßen, hielten die Leute von der Heeresgruppe Mitte das für eine Marotte des Führers, einen Fehler, den einige sogar als verbrecherisch bezeichneten. Ohne diese Maßnahme, so verkündeten sie vehement, hätten wir, statt zwei Monate vor Smolensk auf der Stelle zu treten, Moskau im Oktober eingenommen, dann wäre der Krieg so gut wie beendet gewesen und den Männern wäre ein Winter in Schneelöchern erspart geblieben, Einzelheiten, die den Herren vom OKH natürlich herzlich egal seien, denn wer hätte schon einmal einen General gesehen, der sich die Füße abgefroren habe? Später hat ihnen die Geschichte wohl Recht gegeben, darin sind sich die meisten Fachleute einig; doch damals hatte man eine andere Sicht der Dinge, solche Äußerungen grenzten an Defätismus oder sogar Aufsässigkeit. Aber wir waren dienstfrei, es machte nichts, ich nahm keinen Anstoß daran. Außerdem spürte ich angesichts von so viel Lebhaftigkeit, so vielen gut aussehenden und fröhlichen jungen Männern die Rückkehr von Gefühlen und Wünschen, die ich schon seit langen Monaten nicht mehr empfunden hatte. Und es schien mir nicht unmöglich, sie zu befriedigen: Es kam nur darauf an, gut zu wählen. Häufig nahm ich meine Mahlzeiten in Gesellschaft eines jungen Untersturmführers der Waffen-SS ein, der Willi Partenau hieß. Er war schlank, hatte eine gute Haltung, fast schwarzes Haar und erholte sich von einer Brustverletzung, die er vor Rostow davongetragen hatte. Am Abend, wenn die anderen Karten oder Billard spielten oder in der Bar tranken,

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