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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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bereits ein wenig, und es kam die Hoffnung auf, dass das Schlimmste überstanden sei; aber es war einer der schlimmsten Winter seit Menschengedenken gewesen, nicht nur in Russland, so kalt, dass man überall in Europa Bücher, Möbel und Klaviere verbrannte, selbst ganz alte, wie überhaupt auf dem Kontinent, hüben wie drüben, alles brannte, was einst den Stolz unserer Kultur ausgemacht hatte. Die Neger in ihrem Urwald, sagte ich mir bitter, würden sich darüber kranklachen. Unsere wahnwitzigen Ambitionen brachten im Augenblick noch nicht das erhoffte Ergebnis, und überall breitete sich wachsendes Leid aus. Selbst das Reich war nicht mehr sicher: Die Briten flogen massive Luftangriffe, vor allem an Ruhr und Rhein; das machte den Offizieren, deren Familien in diesen Gebieten wohnten, sehr zu schaffen. In meinem Abteil saß ein Artilleriehauptmann, der vor Isjum am Bein verwundet worden war und seine beiden Kinder bei einem Bombenangriff auf Wuppertal verloren hatte; ihm war ein Heimaturlaub vorgeschlagen worden, aber er hatte darum gebeten, auf die Krim zu kommen, weil er seine Frau nicht sehen wollte. »Ich könnte es nicht«, sagte er lakonisch, bevor er wieder in sein stummes Brüten versank.
    Der Stabsarzt, ein etwas beleibter und fast kahler Wiener namens Hohenegg, erwies sich als äußerst angenehmer Reisegefährte. Er war Professor, Inhaber eines bedeutenden Lehrstuhls in Wien, der in der 6. Armee als leitender Pathologe tätig war. Selbst wenn er sehr ernste Ansichten äußerte, schien in seiner weichen, fast öligen Stimme eine Spur von Ironie anzuklingen. Durch die Medizin war er zu einer philosophischen Betrachtungsweise der Dinge gekommen: darüber diskutierten wir ausführlich, während der Zug die hinter Saporoshje beginnende Steppe durchquerte, eine Steppe, so leblos wie das offene Meer. »Der Vorteil der Pathologie«, erklärte er mir, »liegt darin, dass der Tod seinen Schrecken verliert; wenn man Leichen jeden Alters und jeden Geschlechts geöffnet hat, wird er auf ein so gewöhnliches und banales Phänomen wie die natürlichen Körperfunktionen reduziert. Ich persönlich sehe mich ganz gelassen auf dem Seziertisch liegen, unter den Händen meines Nachfolgers, der beim Anblick meiner Leber nur leicht die Brauen runzelt.« – »Nun, das liegt daran, dass Sie das Glück haben, sie bereits als Tote in die Hände zu bekommen. Das sieht ganz anders aus, wenn man, wie hier so häufig, vor allem beim SD, diesem Schritt des Menschen über sich selbst hinaus beiwohnt.« – »Oder sogar daran mitwirkt.« – »Genau. Egal, was für eine Einstellung oder Ideologie der Betrachter hat, er kann die Erfahrung des Sterbenden nie ganz nachvollziehen.« Hohenegg dachte darüber nach. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Doch diesen Graben gibt es nur für den Betrachter. Nur er kann beide Seiten erkennen. Der Sterbende erleidet nur, mehr oder weniger kurz, mehr oder weniger brutal, etwas Konfuses, das sich aber in jedem Fall seinem Bewusstsein entzieht. Kennen Sie Bossuet?« – »Sogar auf Französisch«, antwortete ich lächelnd in dieser Sprache. »Sehr schön. Ich stelle fest, dass Sie etwas umfassender gebildet sind als der durchschnittliche Jurist.« Er deklamiertedie Satzperioden in einem ziemlich harten, abgehackten Französisch: Auch dieser letzte Augenblick, der mit einem einzigen Strich euer ganzes Leben auslöscht, wird sich mit allem Übrigen in diesem großen Schlund des Nichts verlieren. Keine Spur dessen, was wir sind, wird auf der Erde zurückbleiben: Das Fleisch wird seine Beschaffenheit verändern; der Körper nimmt einen anderen Namen an; selbst der des Leichnams wird nicht lange Bestand haben. Tertullian sagt: »Er wird ein Etwas, für das es in keiner Sprache einen Namen gibt.« – »Ich habe oft gedacht«, erwiderte ich, »dass das sehr gut für den Toten ist. Ein Problem ist es nur für die Lebenden.« – »Bis zu ihrem eigenen Tod«, sagte er augenzwinkernd. Ich lachte leise, und er stimmte ein; die Mitreisenden in unserem Abteil, die sich über Würste oder Weiber unterhielten, sahen uns überrascht an.
    In Simferopol, der Endstation des Zuges, wurden wir für den Rest der Strecke nach Jalta auf Last- und Krankenwagen verfrachtet. Hohenegg, der die Truppenärzte am AOK 11 besuchen wollte, blieb in Simferopol; mit Bedauern verabschiedete ich mich von ihm. Die Kolonne fuhr auf einer Bergstraße nach Osten, über Aluschta, weil sich Bachtschissarai noch im Belagerungsgebiet von

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