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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Kommandeur von Radetzky, ein eleganter Balte, wedelte lässig mit einer behandschuhten Hand und lächelte: »Macht nichts. Wir bleiben nicht lange.« Es gab keine Betten, aber wir hatten Decken mitgebracht; die Männer setzten sich auf die kleinen Stühle der Schüler. Wir waren wohl an die siebzig. Am Abend bekamen wir tatsächlich eine fast kalte Kohlsuppe mit Kartoffeleinlage, rohe Zwiebeln und ein paar Klumpen dunkles, klebriges Brot, das schon beim Schneiden trocken wurde. Ich hatte Hunger, tunkte das Brot in die Suppe, bevor ich es aß, und biss in die Zwiebeln. Radetzky organisierte eine Wache. Die Nacht verlief friedlich.
    Am nächsten Morgen sammelte unser Kommandeur, Standartenführer Blobel, seine Leiter um sich und begab sich mit ihnen zum Hauptquartier. Leiter III, mein unmittelbarer Vorgesetzter, hatte einen Bericht zu tippen und schickte mich als Stellvertreter. Der Stab der 6. Armee, das AOK 6, dem wir unterstellt waren, hatte sich in einem weitläufigen österreichisch-ungarischen Gebäude einquartiert, mit einerin heiterem Orange gehaltenen, mit Säulen und Stuck verzierten und von kleinen Splittern durchlöcherten Fassade. Ein Oberst, anscheinend ein Vertrauter Blobels, empfing uns: »Der Generalfeldmarschall arbeitet draußen. Folgen Sie mir.« Er führte uns in einen ausgedehnten Park, der sich von dem Gebäude bis zu einer Schleife des Bugs weit unten erstreckte. In der Nähe eines einzeln stehenden Baumes ging ein Mann in Badehose mit ausgreifenden Schritten hin und her, umgeben von einem summenden Schwarm Offiziere in durchschwitzter Uniform. Mit einem »Oh, Blobel! Guten Tag, meine Herren« wandte er sich uns zu. Wir salutierten. Es war Generalfeldmarschall von Reichenau, Oberbefehlshaber der 6. Armee. Seine gewölbte und stark behaarte Brust strotzte vor Kraft. In Fettpolstern steckend, in denen sich – trotz seiner athletischen Schultern – die preußische Feinheit seiner Züge verlor, glänzte sein berühmtes Monokel in der Sonne, unpassend, fast lächerlich. Ohne seine peinlich genauen Anweisungen zu unterbrechen, marschierte er stechschrittartig auf und ab. Wohl oder übel mussten wir ihm folgen, was nicht ohne Durcheinander abging; ich stieß mit einem Major zusammen und begriff nicht viel. Endlich blieb Reichenau stehen und entließ uns. »Ach ja! Noch etwas. Für einen Juden sind fünf Gewehre zu viel, die Zahl der Männer reicht nicht aus. Zwei Gewehre pro Verurteilten genügen. Wie viele für die Bolschewisten – das werden wir noch sehen. Bei Frauen können Sie ein vollständiges Erschießungskommando nehmen.« Blobel salutierte: »Zu Befehl, Herr Generalfeldmarschall.« Von Reichenau schlug seine nackten Hacken zusammen und hob den Arm: »Heil Hitler!« – »Heil Hitler!«, antworteten wir im Chor, bevor wir den Rückzug antraten.
    Der Sturmbannführer Dr. Kehrig, mein Vorgesetzter, nahm meinen Bericht ziemlich mürrisch auf. »Ist das alles?« – »Ich habe nicht alles mitbekommen, Sturmbannführer.« Er verzogdas Gesicht und spielte dabei zerstreut mit seinen Papieren herum. »Ich verstehe nicht. Von wem bekommen wir eigentlich unsere Befehle? Von Reichenau oder von Jeckeln? Und wo steckt Brigadeführer Rasch?« – »Ich weiß nicht, Sturmbannführer.« – »Sie wissen nicht gerade viel, Obersturmführer. Wegtreten.«
    Am nächsten Tag rief Blobel alle seine Offiziere zusammen. Etwa zwanzig Mann waren am frühen Morgen mit Callsen aufgebrochen. »Ich habe ihn mit einem Vorkommando nach Luzk geschickt. Das gesamte Kommando wird in ein, zwei Tagen folgen. Dort wird unser Stab vorerst Quartier beziehen. Das AOK wird ebenfalls nach Luzk verlegt. Unsere Divisionen kommen schnell voran. Wir müssen uns an die Arbeit machen. Ich erwarte Obergruppenführer Jeckeln mit den nötigen Befehlen.« Jeckeln, ein sechsundvierzigjähriger Parteigenosse und »Alter Kämpfer«, war höherer SS- und Polizeiführer für Südrussland; alle SS-Verbände des Gebiets, auch der unsere, waren ihm auf die eine oder andere Weise unterstellt. Doch die Frage des Befehlsstrangs ließ Kehrig keine Ruhe: »Also stehen wir unter dem Befehl des Obergruppenführers?« – »Organisatorisch sind wir der 6. Armee unterstellt. Taktische Befehle erhalten wir vom RSHA, über den Gruppenstab, und vom HSSPF. Ist das klar?« Kehrig wiegte den Kopf hin und her und seufzte: »Nicht ganz, aber ich könnte mir vorstellen, dass die Einzelheiten nach und nach klar werden.« Blobel wurde krebsrot: »Aber in Pretzsch wurde

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