Die Wohlgesinnten
Ihnen doch alles erklärt, verflucht noch mal!« Kehrig bewahrte die Ruhe. »In Pretzsch, Standartenführer, hat man uns absolut gar nichts erklärt. Man hat uns mit Reden traktiert und Sport treiben lassen. Sonst nichts. Ich erinnere Sie daran, dass die Vertreter des SD letzte Woche nicht zur Besprechung mit Gruppenführer Heydrich eingeladen waren. Ich bin sicher, dass es dafür gute Gründe gibt, aber ich habe keine Ahnung, was ich zu tun habe, außer Berichte über dieMoral und das Verhalten der Wehrmacht zu schreiben.« Er wandte sich an Vogt, den Leiter IV: »Sie waren doch bei dieser Besprechung zugegen. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn man uns erklärt, was wir zu tun haben, tun wir es auch.« Vogt schaute verlegen vor sich hin und klopfte mit seinem Füller auf den Tisch. Blobel kaute an den Innenseiten seiner Backen herum und fixierte mit finsterem Blick einen Punkt an der Wand. »Gut«, bellte er schließlich, »heute Abend kommt jedenfalls der Obergruppenführer. Morgen sehen wir weiter.«
Diese ziemlich ergebnislose Besprechung muss am 27. Juni stattgefunden haben, denn tags darauf wurden wir zu einer Rede von Obergruppenführer Jeckeln zusammengerufen, und nach meinen Aufzeichnungen wurde diese Rede am 28. gehalten. Jeckeln und Blobel hatten sich wahrscheinlich gesagt, dass die Männer vom Sonderkommando etwas Führung und Motivation brauchten; gegen Ende des Vormittags stellte sich das ganze Kommando im Schulhof auf, um die Rede des HSSPF zu hören. Jeckeln nahm kein Blatt vor den Mund. Unsere Aufgabe, so erklärte er uns, sei es, hinter unseren Linien jedes Element zu identifizieren und zu beseitigen, das die Sicherheit der Truppe bedrohen könne. Jeder Bolschewist, jeder Volkskommissar, jeder Jude und jeder Zigeuner könne jederzeit unsere Quartiere sprengen, unsere Männer ermorden, unsere Züge zum Entgleisen bringen oder dem Feind lebenswichtige Nachrichten übermitteln. Unsere Aufgabe sei es nicht, abzuwarten, bis er gehandelt habe, und ihn dann zu bestrafen, unsere Aufgabe sei es, ihn an der Tat zu hindern. Aufgrund unseres schnellen Vormarsches sei auch nicht daran zu denken, Lager einzurichten und sie mit Verdächtigen vollzustopfen: Jeder Verdächtige sei sofort zu erschießen. Den Juristen unter uns rief er ins Gedächtnis, dass die UdSSR es abgelehnt hatte, die Haager Konventionen anzuerkennen, sodass das Völkerrecht, das unsere Vorgehensweisenim Westen regele, hier im Osten keine Anwendung finde. Es würden Fehler vorkommen, sicher, es würde auch unschuldige Opfer geben, das sei der Krieg. Wenn man eine Stadt bombardiere, stürben auch Zivilisten. Er wisse wohl, dass uns das manchmal gegen den Strich gehe, dass das unserer Empfindsamkeit manchmal zu schaffen mache, dass wir als Menschen und als Deutsche darunter litten. Wir müssten uns folglich selbst besiegen. Er könne nur wiederholen, was er aus des Führers eigenem Mund vernommen habe: Die Verantwortlichen schulden Deutschland das Opfer ihrer Zweifel. Danke und Heil Hitler. Das hatte zumindest den Vorzug der Offenheit. Die Reden von Müller oder Streckenbach in Pretzsch strotzten vor schönen Phrasen über die Notwendigkeit von Mitleidlosigkeit und Unerbittlichkeit; doch abgesehen von der Bestätigung, dass wir tatsächlich nach Russland zogen, beschränkten sie sich auf Allgemeinheiten. Heydrich wäre in Düben bei der Abschiedsparade vielleicht deutlicher geworden; doch kaum hatte er das Wort ergriffen, ging ein heftiger Regen nieder: Er brach seine Rede ab und verschwand in Richtung Berlin. Kein Wunder, dass wir verwirrt waren, zumal kaum einer von uns Praxis-Erfahrung besaß. Ich selbst hatte, seit meinen Anfängen beim SD, praktisch nichts anderes gemacht, als juristische Akten zu ordnen, und ich war beileibe keine Ausnahme. Kehrig kümmerte sich um Verfassungsfragen; selbst Vogt, Leiter IV, kam aus der Registratur. Und Blobel war von der Düsseldorfer Staatspolizei abgezogen worden; er hatte bestimmt nie etwas anderes getan, als Asoziale oder Homosexuelle oder vielleicht von Zeit zu Zeit auch mal einen Kommunisten zu verhaften. In Pretzsch erzählte man sich, er sei Architekt gewesen. Offensichtlich erfolglos. Er war nicht gerade das, was man einen angenehmen Menschen nennt. Seinen Kameraden gegenüber verhielt er sich aggressiv, fast brutal. Sein rundes Gesicht mit dem platten Kinn und den abstehenden Ohrensaß auf dem Uniformkragen wie der Kopf eines Geiers – eine Ähnlichkeit, die von seiner schnabelförmig
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