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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Wehrmacht unterstellt war. In der Regel verfügte ein HSSPF, um seine Autorität durchsetzen und sich auf eigene Truppen stützen zu können, über einige Orpo-Bataillone; nun hatte Korsemann aber noch keine solchen Truppen zugeteilt bekommen, sodass er im Grunde ein HSSPF »ohne besondere Verwendung« blieb: Er konnteVorschläge äußern, aber Bierkamp brauchte sie nicht zu befolgen, wenn sie ihm nicht passten.
    In der KMW ließ Dr. Müller seine Aktion anlaufen, und Prill bat mich, sie zu inspizieren. Mir kam das allmählich merkwürdig vor: Ich hatte nichts gegen die Inspektionen, aber Prill schien alles zu tun, um mich aus Woroschilowsk zu entfernen. Wir erwarteten täglich die Ankunft von Seiberts Nachfolger Dr. Leetsch; vielleicht befürchtete Prill, der den gleichen Dienstgrad hatte wie ich, ich könnte meine Beziehungen zu Ohlendorf spielen lassen und in einer Intrige mit Leetsch dafür sorgen, dass ich an seiner, Prills, statt zum Stellvertreter ernannt würde. Wenn er das wirklich befürchtete, war es einfältig: Ich hatte in dieser Hinsicht nicht die geringsten Ambitionen, und Prill hatte nichts von mir zu befürchten. Aber vielleicht machte ich mir auch völlig grundlos Gedanken? Es war schwer zu sagen. Es war mir nie gelungen, die verschrobenen Rangordnungsrituale der SS zu durchschauen, daher irrte ich mich leicht in der einen wie der anderen Richtung; in diesem Punkt waren der Instinkt und die Ratschläge von Thomas immer von großem Wert für mich gewesen. Aber Thomas war weit weg, und ich hatte keinen Vertrauten in der Gruppe. Offen gestanden, waren dies nicht die Art Leute, mit denen ich gern nähere Beziehungen eingehe. Sie kamen aus den entlegensten Winkeln des RSHA, und der größte Teil von ihnen war sehr ehrgeizig, sie betrachteten die Tätigkeit in der Einsatzgruppe nur als Sprungbrett; fast alle nahmen sie die Vernichtungsarbeit von Anfang an als selbstverständlich hin und stellten sich nicht einmal mehr die Fragen, die den Männern des ersten Jahres so zu schaffen gemacht hatten. Inmitten dieser Leute galt ich als etwas komplizierter Intellektueller und blieb ziemlich isoliert. Das störte mich nicht: Die Freundschaft primitiver Menschen hatte ich noch nie gebraucht. Aber ich musste auf der Hut sein.
     
    In Pjatigorsk traf ich früh am Morgen ein. Es war Anfang September, und das Blaugrau des Himmels war noch schwer vom Dunst und Staub des Sommers. Die Straße nach Woroschilowsk kreuzte die Eisenbahnlinie kurz vor Mineralnyje Wody und schlängelte sich dann parallel zu ihr zwischen den fünf vulkanischen Berggipfeln hindurch, denen Pjatigorsk seinen Namen verdankt. Man kam von Norden her in die Stadt hinein, wobei man das Massiv des Maschuk umfuhr; an dieser Stelle stieg die Straße an, und die Ortschaft lag plötzlich zu meinen Füßen; dahinter erstreckten sich die Hügel der Gebirgsausläufer, übersät mit Vulkanen, deren umgekehrte Kuppeln unregelmäßig über die Landschaft verstreut waren. Das Einsatzkommando hatte seine Dienststelle in einem der Sanatorien vom Anfang des Jahrhunderts eingerichtet, die im Ostteil der Stadt am Fuße des Maschuk aufgereiht sind; Kleists AOK hatte das riesige Sanatorium Lermontow requiriert, doch die SS hatte sich das Wojennaja Sanatorija sichern können, das der Waffen-SS als Lazarett dienen sollte. Die Leibstandarte kämpfte übrigens in der Gegend, und ich dachte mit einem Anflug von Wehmut an Partenau; aber es bringt nichts, alte Geschichten aufzuwärmen, und ich wusste, dass ich keinerlei Anstrengungen unternehmen würde, ihn wiederzusehen. Pjatigorsk blieb weitgehend intakt; nach einem kurzen Scharmützel mit der Betriebskampfgruppe einer Fabrik wurde die Stadt kampflos genommen; auf den Straßen herrschte ein Treiben wie in den amerikanischen Goldgräberstädten Mitte des 19. Jahrhunderts. Fast überall stellten sich Karren und sogar Kamele quer vor Militärfahrzeuge und verursachten Verkehrsstockungen, die von den Feldgendarmen mit reichlich Flüchen und Knüppelhieben aufgelöst wurden. Gegenüber dem weitläufigen Zwetnik-Park wiesen die untadelig aufgereihten Motorräder vor dem Hotel Bristol unverkennbar auf den Sitz der Feldkommandantur hin; die Dienststelle des Einsatzkommandoslag im tieferen Teil der Stadt, auf dem Kirow-Boulevard, in einem zweistöckigen ehemaligen Institut. Die Bäume des Boulevards verdeckten seine hübsche Fassade; eingehend betrachtete ich die Blumenornamente aus Keramik, die unter Stuckfiguren eingelassen waren,

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