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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ergehen; selbst die alten Hasen wiederholten nur, was ich schon seit einem Jahr zu hören bekam, keine einzige ehrliche Reaktion war unter all den Angebereien und Plattitüden zu hören. Ein Offizier tat sich allerdings durch seine wüsten und vulgären Beschimpfungen der Juden besonders hervor. Es war Hauptsturmführer Turek, der Leiter IV des Kommandos, ein unangenehmer Mensch, dem ich bereits im Gruppenstab begegnet war. Dieser Turek gehörte zu den seltenen eingefleischten und obszönen Antisemiten vom Schlage Streichers, die ich in den Einsatzgruppen kaum angetroffen hatte; bei der Sipo und dem SD wurde herkömmlicherweise ein intellektueller, abstrakter Antisemitismus gepflegt und solche emotionalen Äußerungenwurden übel vermerkt. Doch Turek war mit einer bemerkenswert jüdischen Physiognomie geschlagen: Er hatte schwarzes Kraushaar, eine auffällig vorspringende Nase, sinnliche Lippen; hinter seinem Rücken nannten ihn einige grausamerweise »Jud Süß«, während andere andeuteten, er habe Zigeunerblut in den Adern. Er musste seit seiner Kindheit darunter gelitten haben, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit brüstete er sich mit seiner arischen Abstammung: »Ich weiß wohl, dass man es nicht sieht«, pflegte er zu sagen, bevor er erklärte, er habe für seine Heirat, die kürzlich stattgefunden habe, umfängliche Ahnenforschung betreiben müssen und seinen Stammbaum bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt; er ging sogar so weit, den Arierpass hervorzuholen, mit dem ihm das Reichssippenamt bescheinigte, dass er reinrassig und berechtigt sei, deutsche Kinder zu zeugen . Dafür hatte ich Verständnis und hätte durchaus Mitleid mit ihm empfinden können; aber seine Entgleisungen und Obszönitäten gingen entschieden zu weit: Es hieß, bei den Exekutionen solle er sich über die beschnittenen Glieder der Männer lustig machen und die Frauen zwingen, sich nackt auszuziehen, um ihnen zu sagen, dass ihre jüdischen Fotzen nie wieder Kinder gebären würden. Ohlendorf hätte ein solches Verhalten nie geduldet, doch Bierkamp sah darüber hinweg; und Müller, der ihn hätte zur Ordnung rufen müssen, sagte nichts. Jetzt unterhielt sich Turek mit Pfeiffer, der während der Aktion die Erschießungskommandos befehligte; Pfeiffer lachte über seine Ausfälle und ermunterte ihn obendrein. Angeekelt entschuldigte ich mich noch vor dem Dessert und ging auf mein Zimmer. Der Brechreiz setzte mir wieder zu; seit Woroschilowsk, vielleicht auch früher, litt ich erneut unter diesen Übelkeitsattacken, die mich in der Ukraine so gequält hatten. Nur ein einziges Mal hatte ich mich übergeben, in Woroschilowsk nach einer etwas schweren Mahlzeit, aber ich musste mich gelegentlich sehr zusammennehmen, um der ÜbelkeitHerr zu werden: Ich hustete viel und bekam einen roten Kopf, fand das peinlich und zog mich lieber zurück.
    Am nächsten Morgen fuhr ich mit den anderen Offizieren nach Minwody, um die Aktion in Augenschein zu nehmen. Ich war bei der Ankunft und der Entladung des Zuges dabei: Die Juden schienen erstaunt zu sein, so bald wieder auszusteigen, da sie doch gemeint hatten, man würde sie in die Ukraine bringen, blieben aber ruhig. Die Kommunisten wurden von den anderen getrennt, damit jegliche Unruhe vermieden wurde. In der großen überfüllten Halle der Glasfabrik mussten die Juden ihre Kleidung, ihr Gepäck, ihre persönliche Habe und ihre Wohnungsschlüssel abgeben. Das verursachte Aufregung, zumal der Boden der Fabrikhalle mit Glasscherben übersät war und sie sich auf Strümpfen die Füße zerschnitten. Ich wies Dr. Bolte darauf hin, aber er zuckte die Achseln. Die Orpos schlugen mit aller Kraft auf sie ein, zu Tode erschrocken setzten sich die Juden in ihrem Unterzeug hin, die Frauen versuchten, die Kinder zu beruhigen. Draußen wehte eine frische Brise; doch die Sonne knallte auf das Glasdach, sodass es drinnen stickig und heiß war wie in einem Treibhaus. Ein Mann mittleren Alters von gepflegtem Äußeren, mit Brille und kleinem Schnurrbart, trat auf mich zu. Er hielt einen sehr kleinen Jungen auf dem Arm. Er zog den Hut und sprach mich in perfektem Deutsch an: »Darf ich einige Worte an Sie richten, Herr Offizier?« – »Sie sprechen sehr gut Deutsch«, antwortete ich. »Ich habe in Deutschland studiert«, antwortete er würdevoll und reserviert. »Das war früher ein großes Land.« Er musste einer der Leningrader Professoren sein. »Was wollen Sie mir sagen?«, fragte ich schroff. Der kleine Junge, der

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